Kolumne: Römische Notizen

Ein deutscher Bettler in Rom

Veröffentlicht am 15.05.2021 um 12:08 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Obdachlose gehören zu Rom wie Kurienpriester und Vatikanjournalisten. Manchmal werfen sie Fragen auf, die besser sind als Antworten, schreibt unserer Kolumnistin Gudrun Sailer. Sie erzählt von Walter aus dem Ruhrgebiet, der wenige Schritte vom Petersplatz auf der Straße lebt – normalerweise.

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Die jüngsten drei Ausgaben der römischen Notizen handelten von Steinen und Statuen. Weil es so ja nicht weitergehen kann, schreibe ich heute über Walter. Er ist kein Papst, kein Kardinal und auch sonst keine tragende Säule Roms, Figuren, die diese Notizenreihe immer wieder geschmückt haben. Aber auf komplementäre Art gehört Walter zum Umfeld des Vatikans unter Papst Franziskus, physisch wie ideell. Er ist ein Bettler. Ein in Rom gestrandeter deutscher Obdachloser. Zur Zeit sitzt er im Regina Coeli-Gefängnis bei uns um die Ecke und wartet auf seine zweite Anhörung.

Ich kenne Walter, seit wir vis-à-vis vom Vatikan wohnen. Er fiel mir bald auf, aber bis ich ihn ansprach, vergingen ein, zwei Jahre. Dass er Deutscher sein musste, war mir klar, seit ich ihn einmal mit sich selbst reden hörte, geahnt hatte ich es aber schon vorher: sein etwas eckiger Gang, die hellen Augen und – ja – der Rucksack. Italienische und polnische Obdachlose sind meistens mit Taschen oder Rollkoffern unterwegs. So etwas nahm Walter nur zur Not, wenn sein Rucksack durch war und sie in der Kleiderkammer gerade keinen neuen zu vergeben hatten.

Ein mündliches Abkommen

Wir hatten ein Abkommen, Walter und ich: Er sollte mich nicht nach Geld fragen. Ich gab ihm selber welches, nicht jedes Mal, aber wenn, dann Scheine statt Münzen. Nur fragen sollte er mich nicht. Diesen mündlichen Vertrag einzuhalten, war Walter nicht immer gegeben. Dauerte unser Gehsteig-Smalltalk länger als ein oder zwei Minuten, dann – zack – bettelte er mich an. "Muss ich mich ja nächstes Mal beeilen, die Geldbörse rauszuholen, bevor du mich fragst", sagte ich dann, um mich und das Abkommen irgendwie über die Situation hinweg zu retten. Walter fand unseren Deal natürlich Mist, und ganz von der Hand weisen kann man sein Urteil nicht. Er ist ein Bettler, und ich bin reich, für seine Begriffe zumindest. Ja, er steckt mein Geld sofort in Bier, aber ist das nicht – sein Bier? Wie komme ich überhaupt dazu, einen Mann Ende 50 auf diese Art erziehen zu wollen, noch dazu einen, der es im Leben sichtlich schlechter getroffen hat als ich? Für mich taten sich im Umgang mit Walter Fragen auf. Und weil manche Fragen besser sind als Antworten, stehe ich auf gewisse Art in seiner Schuld und nicht er in meiner.

Vor ein paar Jahren entdeckte ich Walter – sensationell! – in einem neuen Musikvideo von Jovanotti, einem römischen Sänger, der in Italien Kultstatus genießt wie in Deutschland vielleicht Herbert Grönemeyer. "Oh vita", Oh Leben, heißt der Song. Walter sitzt (Sekunde 20) auf dem Bordstein und pafft in der Sonne, Rucksack neben sich. Jovanotti rappt und singt sich happy durch die Gassen dieses Viertels, in dem er aufgewachsen ist, sein Vater war Vatikan-Angestellter, ins Bild schiebt sich leitmotivisch die Petersdom-Kuppel. Oh vita! Zehn Euro Gage haben die Filmleute springen lassen, verriet mir Walter, als ich ihm das Video auf dem Handy vorführte. Der Deal mit Jovanotti war auch nicht besser als der mit mir.

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Trotz des Eckigen an Walter, das mir manchmal unheimlich war, schafften wir es, unsere Blitzbegegnungen heiter zu halten. Hie und da lud ich ihn auf einen Kaffee in die Bar ein, fragte ihn nach seinem Lieblingsessen (Dosenfleisch mit Zwiebeln) und seiner Vergangenheit (Ruhrgebiet, Installateur, ledig, kinderlos). Nach Rom kam er vor Jahren mit dem Zug, "damals hatte ich noch Geld", und als es ihm ausging, blieb er, schlief in Kartons auf der Straße, bettelte, ging auf den Petersplatz duschen. In ein Obdachlosenheim wollte er nicht, "die klauen da", knurrte er, und zurück ins Ruhrgebiet wollte er auch nicht, naja vielleicht irgendwann, ich versprach, mich für den Fall zu kümmern. Redselig war er nie. Er verschwand, kaum hatte er den Cappuccino runtergekippt, als wäre ein verbissener Steuerfahnder aus den Tiefen der Vergangenheit hinter ihm her.

Während des Lockdowns im Mai vor einem Jahr fiel mir auf, dass ich Walter lange nicht gesehen hatte. Er fehlte im Viertel. Umsonst fragte ich bei den Freiwilligen von Sant'Egidio nach, die am Petersplatz auf Wunsch des Papstes einen mehrstöckigen Palazzo, der als Luxushotel gedacht war, zum Obdachlosenheim umgewidmet haben. Bei Seelsorgern fragte ich. Bei den Carabinieri. Schließlich ergoogelte ich Walter zu meinem Schrecken als Objekt der Berichterstattung einer Online-Postille. Offenbar hatte er im harten Lockdown – ohne Einnahmequellen als Bettler – einen Passanten, der ihm kein Almosen geben wollte, mit dem Messer bedroht und bis in ein Lebensmittelgeschäft verfolgt.

Er geriet an den übelsten Richter von Rom

Der Artikel nannte auch den Namen des ihm zugewiesenen Pflichtverteidigers. Von diesem Anwalt erfuhr ich, dass Walter, der übrigens nur in diesem Text so heißt, im Regina Coeli-Gefängnis sitzt. Dass er dort nichts verstehen und sich niemandem verständlich machen kann, weil er in seinen Jahren in Rom kein Italienisch gelernt hat und auch kein Englisch spricht. Dass er bei seiner ersten Anhörung an den übelsten Richter von Rom geraten ist, der ihn, obwohl nicht vorbestraft, zu mehrjähriger Haft verurteilte. Der Termin für die Berufungsverhandlung ist Anfang Juni. Da ich an unserem Schenken-statt-Betteln-Abkommen unilateral festhalte, schicke ich Walter ab und zu einen Geldschein via Postanweisung ins Gefängnis, für Zigaretten und Bier, und auch mal einen Brief; eine Antwort ist nie gekommen, aber wirklich überrascht hat mich das nicht. Bettelbriefe passen nicht zu Walter.

Zwischendurch habe ich mir den Jovanotti-Clip nochmal angesehen. Einer der berühmtesten Sänger Italiens und der deutsche Bettler: Beide sind sie in diesem Viertel am Vatikan zu Hause, kennen jede Straßenecke im Video. Sie ähneln sich auch physisch, beide schlaksig, bärtig und etwa gleich alt.Gerade fällt mir auf, dass sie sogar das gleiche Basecap tragen, nur ist das eine schwarz, das andere weiß. Der eine ist ein Superstar, der andere schläft auf Kartons in der Via delle Fornaci. Wenn er Glück hat. Oh vita. 

Von Gudrun Sailer

Kolumne "Römische Notizen"

In der Kolumne "Römische Notizen" berichtet die "Vatikan News"-Redakteurin Gudrun Sailer aus ihrem Alltag in Rom und dem Vatikan.