Sieben Minuten für Betroffene von tausenden Minuten ÖKT-Streaming
Bei der Frage nach der Macht in der Kirche kommt der Ökumenische Kirchentag ins Stocken – dabei war alles so gut gemeint. Um eine Retraumatisierung von Betroffenen zu verhindern, wurden regelmäßig "Triggerwarnungen" eingeblendet, die darauf hinweisen, dass das Hauptpodium "Macht ist nicht gleich Autorität! Eine Stunde zu Kirche und Macht" belastende Schilderungen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in der Kirche enthält.
Dass die Triggerwarnung auch vor den Grußworten des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, und des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, eingespielt wurde, war ein technisches Versehen. Die beiden Bischöfe luden lediglich zur Beteiligung über die Konferenz-Software "Mentimeter" ein. Die kleine technische Panne wurde aber zum Ausblick auf die weitere Veranstaltung.
Die eine Stunde zu Kirche und Macht versuchte den ganz großen Aufschlag: Theologische Betrachtungen zur Macht von Würzburger Theologen, ein Block Missbrauch, ein Block Kirche, Geld und Finanzen, ein Block Amt als Wagnis – inklusive der künstlerischen Unterbrechung durch den Tanzpädagogen und Theologen Frieder Mann standen 15 verschiedene Beitragende im Programm, die zumeist abgefilmte (oder zumindest abgefilmt wirkende), nur lose thematisch zusammengehaltene Statements vortrugen.
Mit Bauchweh zum ÖKT
Live dazugeschaltet wurde Katharina Kracht, die dem vor kurzem aufgelösten Betroffenenbeirat der EKD angehörte. Drei Minuten waren für ihren Beitrag vorgesehen. Die Auflösung des Betroffenenbeirats kritisierte sie dabei scharf: Gegen das Votum der Betroffenen sei die Entscheidung getroffen worden, nur eine 90-minütige, konsequenzlose Anhörung habe es gegeben. Die von der EKD versandte Pressemitteilung bezeichnete sie als "verkürzt und voller Halbwahrheiten". Darin wurde die Konzeption des Betroffenenbeirats nach dem Rücktritt mehrerer Mitglieder als "gescheitert" bezeichnet, eine Beteiligung von Betroffenen bleibe aber gewährleistet. "Das ist fürchterlich, was die EKD gemacht hat, und es ist ein gutes Beispiel für Machtmissbrauch", so Kracht. Die evangelische Kirche forderte sie auf, ihre Deutungshoheit selbst in Frage zu stellen und zu reflektieren, welchen Machtapparat die Kirche selbst darstellt.
Problematisch sei aber auch der Umgang mit dem Thema auf dem Kirchentag: Kracht selbst hat auf zwei Kirchentagen Missbrauch durch einen Pastor der Landeskirche Hannover erfahren. Ihre Zusage zur Mitwirkung am Ökumenischen Kirchentag habe sie daher von Anfang an nur mit Bauchschmerzen gegeben. Bei den Absprachen zum Podium scheint es zu Missverständnissen gekommen zu sein: Während sie mit drei Minuten für ein vorbereitetes Statement gerechnet hatte, begann die Moderation mit einem Gespräch – das vereinbarte Statement wurde vergessen. Gerade noch war Krachts Verwunderung zu hören, dass ihre Redezeit schon vorbei ist, bevor das Mikrofon ausgeschaltet wurde, nahtlos ging das Programm weiter – mit einem deutlichen Schnitt zum Thema Finanzen.
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Auf Twitter machte Kracht ihrem Unmut Luft: "Anders als ich Absprache verstanden habe, konnte ich mein Statement auf dem #oekt überhaupt nicht verlesen. Ich dachte, ich werde anmoderiert und spreche dann 3 Minuten. Woran sich wieder zeigt, dass 3 Minuten für Betroffene überhaupt nicht geht." Bereits zuvor hatte sie über diesen Kanal die Vorbereitung des Podiums transparent gemacht und kritisiert, dass den beiden Vertreterinnen der Betroffenen – neben Kracht wurde auch ein Statement von Johanna Beck, die Mitglied im Betroffenenbeirat der DBK ist, eingespielt – insgesamt nur sieben Minuten zugestanden wurden. "Besser kann man es gar nicht zeigen, wie die kirchliche Praxis ist", kommentierte sie. "'Betroffenen Raum geben' = 7 Minuten." Sie habe intensiv versucht, auf den Verlauf der Veranstaltung einzuwirken, "aber "es ist ja alles schon organisiert'". Sie spreche dennoch in der Hoffnung, "wer dort zuhört, recherchiert vllt eigenständig".
Die eine Stunde am Mittag ist nicht die einzige Auseinandersetzung des Kirchentags mit dem Thema Missbrauch – und auch nicht der einzige fragwürdige Vorgang. Die Diskussionsrunde unter der Überschrift "Tatort Glaubensraum", bei dem sich die zuständigen Bischöfe – für die katholische Kirche der Trierer Bischof Stephan Ackermann, für die evangelische der Braunschweiger Landesbischof Christoph Meyns – mit der Essayistin Petra Morsbach unterhalten, sollte zunächst von Kerstin Claus moderiert werden. Die Journalistin ist seit 2015 Mitglied des Betroffenenrats beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Laut mehreren Betroffenenorganisationen soll Meyns seine Teilnahme davon abhängig gemacht haben, dass Claus nicht die Moderation übernimmt. Während die ÖKT-Veranstalter an ihr als Moderatorin festhalten wollten, habe sie selbst ihre Zusage zurückgezogen.
Antworten gibt es nur per Ausdruckstanz
Bei der Veranstaltung am Mittag wird Kracht dann doch noch zugeschaltet, sichtlich peinlich berührt bitten die Moderatoren um Entschuldigung. Dass für Betroffene "sieben Minuten von tausenden Minuten von Streaming vom Kirchentag" vorgesehen werden, geht im Zeitdruck unter. Immerhin, ihr Statement kann Kracht doch noch in voller Länge verlesen, in dem sie erneut deutlich die Vorgänge um den EKD-Betroffenenbeirat kritisiert und am Beispiel ihrer eigenen Geschichte darlegt, wie die Kirche als Institution über Jahrzehnte Täterschutz ins Zentrum gestellt hatte. "Missbrauch war nur möglich, weil der Pastor qua Amt über Macht und Respekt verfügte und andere schwiegen", so Kracht. Selbst nach mehreren Beschwerden von betroffenen Jugendlichen über den Pastor sei nicht gehandelt worden.
Das Statement verhallt aber. Auf die Betroffenen reagiert niemand – jedenfalls niemand mit Verantwortung. Das Moderatorenduo – die Journalistin Claudia Nothelle und der Pastor und Musiker Julian Sengelmann – zeigt sich betroffen, ein Gegenüber von Seiten der Institutionen haben weder Beck noch Kracht. Nur der tanzende Theologe Frieder Mann kommentiert die Beiträge: mit einem hochkant mit dem Handy aus einer schlecht beleuchteten Kirche gestreamten Ausdruckstanz.
Korrektur, 15. Mai 2021, 17.10 Uhr: Kerstin Claus ist nicht Mitglied des EKD-Betroffenenbeirats, sondern des Betroffenenrats beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.