"ESC-Mönch": Viele Eurovision-Lieder lassen sich mit Glaube verbinden
Könnte der Vatikan beim Eurovision Song Contest (ESC) antreten? Welche Lieder der langen Geschichte des Wettbewerbs haben einen religiösen Bezug? Und welche Chancen hat der diesjährige deutsche Teilnehmer beim ESC? Diesen und vielen weiteren Fragen hat sich "ESC-Mönch" Bruder Benedikt Müller aus der Abtei Königsmünster im Interview gestellt.
Frage: Woher kommt Ihre Begeisterung für den Eurovision Song Contest?
Br. Benedikt: Das ist meiner Generation und der deutschen Fernsehgeschichte geschuldet: In den 70er-Jahren sah man den Grand Prix, wie der ESC damals noch hieß, einmal im Jahr einfach. Ich erinnere mich, den frühesten Song Contest mit sechs Jahren 1979 geschaut zu haben. Recht schnell fand ich es total faszinierend, dass nacheinander Lieder in den verschiedensten Sprachen gesungen wurden und sich die einzelnen Länder dafür Punkte gaben. Seit Nicoles Sieg beim Grand Prix 1982 in Harrogate fing ich an, den Wettbewerb regelmäßig zu gucken und mich für seine Geschichte zu interessieren.
Frage: Gibt es besondere Erinnerungen oder Höhepunkte, die Sie mit der Geschichte des ESC verbinden?
Br. Benedikt: Beim 32. Eurovision Song Contest aus Brüssel 1987 erinnere ich mich besonders an das erste Lied. Die Sängerin aus Norwegen kam auf die Bühne und für mich stand dann fest, dass an diesem Abend niemand weiteres mehr aufzutreten brauchte. Kate Gulbrandsen hatte einfach mein Herz gewonnen, denn die Botschaft ihres Liedes, das auf Deutsch "Mein Leben" heißt, verstand ich sofort, auf wenn ich kein Norwegisch spreche. Das Lied erzählt vom Erwachsen-Werden und der Suche nach dem Weg, das eigene Leben zu leben. Noch jetzt ist es mein absolutes Lieblingslied.
Frage: Vor zwei Jahren waren Sie Mitglied der deutschen Jury für den ESC. Wie kam es dazu?
Br. Benedikt: Ich wollte das eigentlich schon 2018 machen, habe mich dann aber nicht getraut, die Bewerbung abzuschicken. Ich hatte bei Facebook einen Aufruf gesehen, dass man sich als Mitglied für die Jury bewerben kann. 2019 habe ich es schließlich gewagt und wurde ausgewählt. Ich bin auch im Habit zu dem Treffen gegangen. Wie es abgelaufen ist, darf ich eigentlich gar nicht erzählen. (lacht) Aber was ich sagen kann: Der NDR hatte alles sehr gut organisiert. Manchmal hört man Gerüchte oder Mutmaßungen, dass beim ESC undurchsichtige Entscheidungen getroffen werden, etwa bei der Auswahl der Lieder für die einzelnen Länder. Aber bei einer Jury mit 100 Mitgliedern ist ein Betrug ausgeschlossen. Die Geräte zur Abstimmung wurden von Juristen überwacht und es waren immer viele Augen auf uns gerichtet. Wir haben die Lieder nur ein paar Stunden früher als die Zuschauer gehört. Spannend war auch das halbe Jahr vorher, als wir immer mehr über die Interpreten erfahren haben. Das war wirklich eine sehr spannende Erfahrung.
Frage: Die Beschäftigung mit dem ESC ist ein großes Hobby von Ihnen. Wie nimmt das Ihr Umfeld im Kloster wahr?
Br. Benedikt: Die Leidenschaft für den ESC ist überhaupt kein Problem. Meine Mitbrüder kannten mich und haben mich bei der Aufnahme ins Kloster so akzeptiert wie ich bin. Ich bin einfach der ESC-Mönch; Fußball-Mönche haben wir auch. Manche meiner Mitbrüder schauen sich mittlerweile zusammen mit mir den ESC an. In unserem Jugendhaus habe ich Gebete für junge Menschen mit den Liedern des ESC eingeführt. Darauf ist vor einiger Zeit ein Pastor aus Den Haag aufmerksam geworden und wir haben darüber geredet, welche Lieder wir benutzen. Wir haben auch Listen ausgetauscht. Nächstes Jahr biete ich bei uns im Kloster sogar ein Wochenende zu spirituellen Elementen beim ESC an. Für viele Menschen scheint es ungewöhnlich zu sein, dass es einen Mönch gibt, der den christlichen Glauben mit Liedern des ESC verbindet. Das ist zwar manchmal etwas verrückt, aber warum denn nicht?! Kirche kann schließlich auch bunt und modern sein.
Frage: Aber ins Stundengebet der Mönche haben es Lieder des ESC noch nicht geschafft?
Br. Benedikt: Nein, ins Stundengebet nicht, aber eben ins Jugendgebet. Ich setze sie bei Meditationen, Impulsen, Tageseinstiegen oder -ausklängen ein. Einige Lieder haben einen eindeutigen Bezug zu Bibelstellen oder spirituellen Themen. Viele sind sehr emotional und eignen sich deshalb hervorragend für das Gebet. Das liegt daran, dass die Lieder innerhalb von drei Minuten ein Gefühl übermitteln müssen, um eine Chance beim ESC zu haben. Das ist dann zwar kein langes Gebet, aber der heilige Benedikt schreibt in der Mönchsregel, dass das Gebet kurz und aufrichtig sein soll. Ich kann in zehn Minuten mit einem Psalm, einer Perikope aus der Bibel, einigen Gedanken, dem Vaterunser und einem ESC-Lied einen schönen Gottesdienst feiern. Das Lied ist zwar nicht das Wesentliche dabei, das ist das Wort Gottes. Aber die Musik hilft bei der Besinnung.
Frage: Gibt es auch inhaltliche Überschneidungen zwischen ESC-Liedern und dem christlichen Glauben?
Br. Benedikt: Einer der religiösesten Texte stammt von Lordi mit "Hard Rock Hallelujah". Das ist der Offenbarung des Johannes entnommen: Am Ende der Zeiten kommen die Engel und singen ihr Halleluja zum Lob Gottes. Dieses Lied setze ich bei den Gebeten nicht ein, sondern ich nehme eine Coverversion mit einem Instrumentalteil, damit die Monster von Lordi nicht im Vordergrund stehen. Auch dieses Jahr sind einige religiöse Titel dabei: In den Halbfinalen gab es zwei Lieder aus Slowenien und Österreich mit dem Titel "Amen". Der österreichische Beitrag von 2016 erzählt von einem Land weit weg von hier, wo die Menschen glücklich leben. Es greift so das Bild des Paradieses auf. Auch das Lied "Roi" aus Frankreich aus dem Jahr 2019 hat eine schöne Thematik. Darin geht es frei interpretiert darum, dass jeder Mensch ein König und von Gott geschaffen ist. Jeder ist geliebt, egal wie er oder sie ist. Es gibt noch viele weitere christliche oder spirituelle Themen in ESC-Liedern. Interessant war übrigens, dass Portugal im Jahr 2017 in Kiew den ESC gewonnen hat, nachdem sie sonst immer Pech hatten. Doch das Finale fand am 13. Mai statt, dem 100. Jahrestag der Erscheinungen von Fatima. Vielleicht war das etwas mehr als Glück?! Auf jeden Fall war es ein kleines Wunder, dass Portugal gewonnen hat.
Frage: Immer wieder sind auch politische Themen oder die Situation von Minderheiten Themen von ESC-Liedern…
Br. Benedikt: Eines der ersten politischen Lieder war das griechische "Oh, meine Mutter", das vor 25 Jahren in Den Haag gesungen wurde. Ich verstehe es eher als ein Mariengebet. Thematisiert wird das Leid der Bevölkerung Zyperns nach der türkischen Invasion. Damals war es sehr umstritten, weil man es für zu politisch hielt. 2016 wurde "1944" von Jamala aus der Ukraine politisch gedeutet. Dann fand ein Jahr später der ESC in Kiew statt, bei dem Russland nicht teilnehmen durfte. Dieses Jahr wurde Weißrussland disqualifiziert, weil es eine Textzeile gab, die lautete: "Wenn ihr so tanzt wie ihr wollt, werden wir euch das Tanzen beibringen." Das ist mit Blick auf die Proteste gegen Diktator Lukaschenko politisch gedeutet und verboten worden. Die Regeln des ESC sind sehr streng, wenn es um politische oder diskriminierende Aussagen geht. Das gleiche gilt auch für Werbung: 1987 musste der Titel des schwedischen Beitrags geändert werden, in dem Coca-Cola genannt wurde. Für den Schutz von Minderheiten macht sich der ESC sehr stark. Das ist auch richtig so. Conchita Wurst ist das beste Beispiel für Freiheit und Toleranz.
Frage: Wie beurteilen Sie die Entwicklung des ESC in den vergangenen Jahrzehnten?
Br. Benedikt: Der Wettbewerb hat eine "Schwedisierung" durchgemacht. Er wird sehr vom schwedischen Verständnis der Musikindustrie dominiert, was mir nicht sehr gefällt. Der Supervisor des ESC ist immer ein Skandinavier. Viele andere Länder und auch Fans wünschen sich einen Italiener, wegen des Wettbewerbs von San Remo, das als Ursprungsfestival der Eurovision gilt. Dann hätte man beim ESC bestimmt wieder das Orchester – anders als jetzt. Beim schwedischen Melodienfestival stehen hingegen eher das Aussehen und das Auftreten der Sänger im Vordergrund, die Musik eher nicht. Auf keinen Fall darf das Prinzip des Live-Auftritts aufgegeben werden. Außerdem müsste man die Landessprachen in den Liedern wieder nach vorne bringen. Bei diesem Thema gehen selbst bei den ESC-Fans die Meinungen sehr stark auseinander, aber ich bin ein großer Verfechter der unterschiedlichen Sprachen. Nicht aus nationalistischen Gründen, sondern genau aus dem Gegenteil: Die Landessprachen zeigen die große kulturelle Vielfalt in Europa. Man konnte früher beim Grand Prix ein türkisches Lied hören und sofort danach eines aus Island. Die strenge Sprachregelung, dass man in einer der Landessprachen singen musste, galt von 1977 bis 1998. Die Schweiz hat in diesem Punkt großes Glück, denn sie hat vier Landessprachen. Es gab einmal sogar ein Lied auf Rätoromanisch. Einfach toll!
Frage: In Deutschland gab es einige Jahre, in denen es witzige Lieder zum ESC schafften. Wie stehen Sie dazu?
Br. Benedikt: "Wadde hadde dudde da?" ist eines der am besten komponierten Lieder in der Geschichte der Eurovision. Es stellt ein musikalisches Meisterwerk dar, auch wenn man über den Text streiten kann. Ich fand daran zudem gut, dass Deutschland sich nicht zu ernst genommen und ein anderes Bild von sich vermittelt hat. Beiträge dieser Art von Guildo Horn und Stefan Raab waren ja durchaus erfolgreich. Aber die erfolgreichsten Jahre hatte Deutschland beim ESC als der Bayerische Rundfunk den Song Contest von 1977 bis 1987 leitete. Damals waren wir fast ausschließlich unter den besten zehn Liedern – mit deutschen Schlagern. Die Europäer lieben Musik in deutscher Sprache und wir setzen sie leider nicht ein. Stattdessen wählt Deutschland Lieder auf Englisch aus. Das ist schade. Ich warte deshalb darauf, dass wir endlich wieder einen deutschsprachigen Titel haben.
Frage: Welche Chancen geben Sie dem diesjährigen deutschen Beitrag von Jendrik Sigwart?
Br. Benedikt: Er ist sicherlich ein guter Musiker und das Lied ist sehr witzig. Aber in die Top Ten wird der Titel nicht kommen. Ich denke, er wird irgendwo zwischen dem 15. und 26. Platz landen. Die Beiträge der anderen Länder sind in diesem Jahr sehr bunt, weshalb ich mich nicht traue, die zehn Bestplatzierten vorherzusagen. Aber man muss mit Malta rechnen, mit der Schweiz und Frankreich. Hoch gewertet werden auch die Beiträge aus Bulgarien und Zypern, aber den Text von "El Diablo" finde ich persönlich etwas schwierig.
Frage: Dürfte eigentlich auch der Vatikan am Wettbewerb teilnehmen?
Br. Benedikt: Der Vatikan ist dazu berechtigt, hat von diesem Recht aber noch nie Gebrauch gemacht. Das ist traurig, denn Nonnen oder Mönche beim ESC wären doch mal ein Hingucker! (lacht) Ich fände eine Teilnahme witzig – vielleicht sogar mit einem Lied in der Landessprache des Vatikan: auf Latein.