Was die deutsche von der niederländischen Kirche lernen kann
Als ich vor 25 Jahren zum Studium aus den Niederlanden nach Deutschland kam, befand ich mich in einer Kirchenkrise: Einerseits fand ich die katholische Kirche, die Kirche meiner Jugend interessant und anziehend. Ich war beeindruckt von allem, was sie im sozialen Bereich leistete, und wollte mich ebenfalls engagieren. Andererseits war die Kirche in meiner Heimat zu dieser Zeit stark polarisiert: Was sich progressiv und konservativ nannte, bekämpfte sich aufs heftigste. Man musste sich für ein Lager entscheiden – und es gab niemanden, der mir Orientierung gegeben hätte.
In Deutschland fand ich damals, was ich suchte: die Volkskirche. Die verschiedenen Flügel waren in eine breite intellektuelle Debatte eingebunden, die sozialen Verbände hatten Einfluss in der Gesellschaft. Es gab Gottesdienste mit schöner Liturgie, die von verschiedenen Generationen besucht wurden. So wollte ich Kirche erleben, und mit dieser Vision kehrte ich zurück in meine Heimat.
Gerade wegen dieser positiven Erfahrungen geht mir die momentane Lage der Kirche in Deutschland besonders zu Herzen. Von Rassismus ist die Rede, von Machtmissbrauch, von patriarchalen Strukturen. Öffentliche Personen werden aufs schärfste kritisiert, nicht für das, was sie getan, sondern für das, was sie versäumt haben (sollen). Es werden Forderungen gestellt und Erwartungen geweckt, die so hochgesteckt sind, dass sie zwangsläufig zur Enttäuschung führen müssen. Wenn es aber keine klaren Fortschritte gibt, werden weiter Menschen aus der Kirche austreten, sie wählen mit dem Kirchensteuerbescheid.
Parallelen zum niederländischen Pastoralkonzil
Die Gräben zwischen den Fronten werden immer tiefer: Beide Seiten scheinen sich nicht mehr zu verstehen – verstehen zu wollen. Das ist nicht mehr die Kirche, die mich inspiriert hat, mich ihr wieder anzunähern, ihre Quellen weiter offenzulegen, mich für sie einzusetzen, und anderen Menschen in dieser Gemeinschaft wieder Mut zu machen.
Die Entwicklungen in Deutschland erinnern mich an die Geschichte des niederländischen Pastoralkonzils vor etwa 50 Jahren. International wird dieses Ereignis in bestimmten Kreisen als Zeichen der Erneuerung hoch gelobt. Aber letztendlich hat es der Kirche wenig gebracht. Es hat angefangen als Gespräch über die notwendigen Veränderungen in der Kirche: diskutiert wurde – genauso wie jetzt in Deutschland, als ob sich nichts geändert hat – über Macht und Amt in der Kirche, über Ehe und Sexualität, über Priester und Zölibat, über Liturgie und Ökumene und vor allem über die soziale Verantwortung der Christen. Es wurden tatkräftige Beschlüsse gefasst, die, weil der Status des Konzils unklar war (wiederum genauso wie in Deutschland heute), ins Leere verliefen. Und so endete es in einer Teilung der Kirche in zwei Lager, die einander aufs heftigste bekämpften.
Zwischen diesen zwei Lagern ist die Mitte der Kirche in den Niederlanden völlig weggebrochen: Zwei bis drei Generationen sind verloren gegangen. Die katholischen Sozialverbände, die katholischen Schulen, die katholische Jugendbewegungen, die katholischen Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen – mit alledem hat die Kirche keine Beziehungen mehr, wenn es sie überhaupt noch gibt. Dazu kommt noch, dass es der Kirche überhaupt keine Erneuerung gebracht hat: Die Bewahrenden haben sich auf den Erhalt der überlieferten Liturgie, auf die Frömmigkeit und die kirchliche Struktur verlegt. Und die Progressiven haben sich so in ihren Erneuerungen festgebissen, dass sie noch immer die gleiche Liturgie feiern wie vor 40 Jahren und damit eine neue Orthodoxie haben entstehen lassen. Richtige Erneuerung hätte wahrscheinlich irgendwo in der Mitte gelegen.
Zurückblickend lag das Problem wohl darin, dass zu viel Energie auf innerkirchliche Fragen verschwendet wurde. Für mich war und ist die Kirche Mittel zum Zweck. Die Kirche ist dafür da, einen Raum, eine Gemeinschaft zu schaffen, wo die tröstende und hoffnungsvolle Nachricht des Evangeliums gehört wird, erzählt wird, erlebt und gelebt wird. Wo es um Werte geht wie Gnade, Vergebung, Barmherzigkeit. Wo Menschen wirklich angehört werden und so zu ihrem Recht kommen können. Wo gefeiert und Gott gedankt wird, dass wir leben, und zwar so intensiv, dass es über den Tod hinaus geht.
Gefahr, sich auf innerkirchliche Fragen zu beschränken
Zu dieser Gemeinschaft müssen wir die Menschen immer wieder neu einladen, um ihnen zu zeigen, wie schön es ist, dass das Reich Gottes in unserer Welt angebrochen ist, und so den Menschen und der Welt zu dienen zu ihrer Vollkommenheit, dem vollen Leben. Die niederländischen Katholiken haben sich bis heute so sehr auf die innerkirchlichen Fragen konzentriert, dass sie dieses Ziel aus den Augen verloren haben. Meine Sorge ist es, dass die deutschen Katholiken dies auch aus den Augen verlieren werden.
Sie können einwenden: "Schöne Vision! Das wollen wir alle, aber die tägliche Praxis sieht anders aus." Natürlich kenne auch ich diese kirchliche Praxis: Auch ich und meine Familie haben zu kämpfen mit schlechter Chormusik, mit ausländischen Pfarrern, die schwierig zu verstehen sind, mit eigenwilligen Pfarrvorständen, mit unwürdig ausgeführter Liturgie, mit Caritasvorständen, die sich wie eine Behörde aufführen, mit nicht mal mittelmäßiger Katechese, mit autoritären Pfarrern und Diakonen. Viele kirchliche Haupt- und Ehrenamtliche bemühen sich sehr, den heiligen Geist vor der Welt verborgen zu halten. Trotzdem: Wenn man das Evangelium so bekommt, wie man es haben möchte, fordert es einen nicht mehr heraus, sich dafür oder dagegen zu bestimmen. Vielleicht muss man diese Widerstände aus der Amtskirche manchmal aushalten, um den Blick fest auf das auszurichten, worum es wirklich geht.
Sie können auch einwenden: "Unser niederländischer Nachbar hat leicht reden, er ist ein Mann, heterosexuell, katholisch verheiratet, geweihter Diakon, im kirchlichen Dienst." Das stimmt und es macht mich bescheiden. Ich kann nicht aus persönlicher Erfahrung über das unfassbare Leid sprechen, das die Betroffenen von sexuellem Missbrauch erfahren mussten. Ich habe weder die Frustrationen der Frauen selbst erlebt noch die Enttäuschungen der Homosexuellen, die Ohnmacht der Geschiedenen oder das Gefühl der Nichtanerkennung der ökumenisch Verheirateten. Aber ich kenne viele, die mir davon erzählt haben, und stehe als ehrenamtlicher Diakon und als Militärseelsorger mitten unter den Menschen – mitten in der Welt der Kirchenfernen und -fremden.
Mir geht es in der Kirche darum, Menschen zu begeistern, sich für andere zu engagieren. Mein Kriterium für Gelungenes oder weniger Gelungenes lautet: Schafft es eine Gemeinschaft, den Geist Christi sichtbar zu machen? Schafft sie es zu zeigen, wie schön, wahr und gut es ist, aus der Liebe Gottes zu leben? Gelingt es uns, Menschen zu dieser Gemeinschaft einzuladen? Mit Blick auf diese Fragen erscheinen mir Themen wie verheiratete Priester, Diakoninnen oder die Segnung von homosexuellen Paaren nicht als das Wichtigste. Sie sind mir zu innerkirchlich und führen am Hauptziel vorbei.
Ein Vergleich mit anderen Kirchen lässt zudem erahnen, dass eine Gemeinschaft nicht unbedingt attraktiver wird, wenn sie sich in diese Richtung öffnet: Die Lage der anglikanischen Kirche in Großbritannien, der evangelischen Kirche in Deutschland oder der ehemaligen Staatskirchen in Skandinavien ist bestimmt nicht besser als die der katholischen Kirchen in Europa. Das zeigt, dass die Botschaft der Liebe Gottes für diese Welt in ihrer Tiefe und Weite unverständlich und unbegreiflich bleibt – mit oder ohne verheiratete Priester oder Diakoninnen – und dass wir uns persönlich und als Gemeinschaft vielmehr auf diese Liebe einlassen müssen, um sie der Welt sichtbar zu machen. Wir können und sollten deswegen Frauen und Homosexuellen in ihren Fragen nahe sein. Ebenso den Migranten, Alten, Arbeitslosen und Behinderten in ihren konkreten Nöten. Da gibt es viel mehr zu tun, als einfache Lösungen für diese komplexen Probleme zu suchen und es gibt mehr zu tun als wir im Moment machen.
Vorhandene Spielräume ausschöpfen
Es ist typisch katholisch – übrigens auch typisch deutsch und niederländisch –, alles von der Obrigkeit zu erwarten. Aber die Attraktivität der Glaubensgemeinschaft vor Ort ist nicht per se abhängig von den Diskussionen auf dieser Ebene. Wenn Sie eine aktive, fröhliche, engagierte, feiernde, tröstende, inspirierte Gemeinde sind, dann werden die Menschen Sie schon finden. Meine Erfahrung ist es, dass die momentanen Formen der Kirchenstruktur, des Kirchenrechtes und der Liturgie dafür ausreichende Möglichkeiten bieten, die aber viel zu wenig ausgeschöpft werden.
Mein Argument lässt sich zusammenfassen in einer Anekdote und einer rhetorischen Frage: In der Chronik einer Kirchenschließung las ich, dass die Pfarrei das Taufbecken in eine Abstellkammer gestellt hatte, weil "es in den letzten Jahren doch keine Taufen gegeben hat". Wenn die Pfarrkultur so ist, kommt natürlich auch niemand dazu. In unserer Pfarrei dagegen werden wir bis zum Jahresende mindestens drei Erwachsene zur Taufe und vier Paare zur Ehe begleitet haben.
Wenn sich jemand an der Kirchentür oder dem Pfarrhaus meldet, was sagen Sie dann? Er soll es sich noch mal überlegen, ob er wirklich diesem Verein beitreten möchte? Oder sagen Sie, wie schön es ist, aus dem Glauben in einer Gemeinschaft zu leben, und machen sich mit dieser Person auf den Weg?
Der Autor
Der niederländische Religionssoziologe und Kirchenhistoriker Erik Sengers arbeitet als Militärseelsorger und ist Privatdozent der Theologischen Fakultät der Universität Tilburg. Seit 2011 ist er ständiger Diakon des Bistums Haarlem-Amsterdam.