Das neue Strafrecht der Kirche: (Etwas) mehr Rechtsstaatlichkeit wagen
Die Kirche wagt etwas mehr Rechtsstaatlichkeit. Im weltlichen Strafrecht gilt der Grundsatz des Analogieverbots: Entdeckt ein Richter eine Regelungslücke im Strafrecht, kann er diese nicht einfach schließen, indem er möglichst passende Normen auf den vorliegenden Sachverhalt anwendet. Regelungslücken gehen im Strafrecht immer zu Lasten des staatlichen Strafanspruchs, um die dem Strafrecht unterworfenen vor diesem schärfsten Schwert des Rechtsstaats zu schützen. Nur was explizit geregelt ist, kann auch strafrechtlich sanktioniert werden. Das kirchliche Recht dagegen ist gerade im Bereich des Strafrechts deutlich anders strukturiert: Auch hier wurde es als schärfstes Schwert gesehen – aber mit der Konsequenz, dass es möglichst nicht gezogen werden sollte, mit viel Spielraum für die zuständigen Autoritäten, ob und wie sie verfolgen, und vor allem: mit sehr unbestimmten Rechtsbegriffen.
Das ändert sich jetzt – immerhin ein wenig. Ein besonderes Ärgernis des bisherigen kirchlichen Strafrechts ist die verschämte Abhandlung von Sexualdelikten, die nicht als Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung gefasst, sondern ím Kontext eines Zölibatsvergehens als Verstoß "gegen das sechste Gebot des Dekalogs" verstanden wurden. Das Gebot "Du sollst nicht ehebrechen" wird interpretatorisch mit der ganzen Bandbreite sexualisierter Gewalt und Fehlverhalten aufgeladen.
Sexualisierte Gewalt ist Straftat gegen die Würde
Das sechste Gebot findet sich nun immer noch in der reformierten Textfassung des Buchs VI des CIC, das sich mit dem Strafrecht befasst. Auch weiterhin gibt es im Strafrecht Verstöße gegen das sechste Gebot als Zölibatsvergehen. Zusätzlich taucht aber, immer noch in der Formulierung "Straftat gegen das sechste Gebot", in can. 1398 § 1 Nr. 1 eine zusätzliche Pönalisierung unter der Rubrik "Straftaten gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen" auf – sexuelle Selbstbestimmung wie im deutschen weltlichen Recht ist weiterhin kein kanonistischer Begriff, auch wenn mit einer besonderen Berücksichtigung von Minderjährigen und im Vernunftgebrauch eingeschränkten Menschen dieser Aspekt zumindest implizit angedeutet wird. Zum nach wie vor interpretationsbedürftigen sechsten Gebot kommen weitere Normen zu Pornographie: Wer Minderjährige und geistig Eingeschränkte "dazu verführt oder verleitet an echten oder simulierten pornographischen Darstellungen teilzunehmen oder diese umzusetzen", begeht eine Straftat, ebenso, wer pornographische Bilder dieser Personengruppen "erwirbt, aufbewahrt oder verbreitet". Das ist mehr als bisher – aber immer noch deutlich unkonkreter als weltliche Strafordnungen. Das deutsche Strafgesetzbuch kennt 25 Paragraphen unter der Überschrift "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung".
Auffällig ist, dass auch im neuen kirchlichen Strafrecht auf die Formulierung "verletzliche Personen" ("persone vulnerabili"), wie sie in der aktuellen Gesetzgebung des Vatikanstaats verwendet wird, verzichtet wird – gerade mit Blick auf Volljährige in Situationen von Machtasymmetrien, beispielsweise Seminaristen und Novizen, wäre das wünschenswert gewesen. Ob, wie Heribert Hallermann es bei katholisch.de hoffte, durch die neugefassten Normen auch geistlicher Missbrauch endlich strafrechtlich fassbar wird, ist angesichts des auf den Bereich des sechsten Gebots und explizit sexuelle Akte fokussierten Wortlauts aber fraglich.
Auch weiterhin kein Bestimmtheitsgebot
Dass der Verstoß gegen das sechste Gebot immer noch die leitende Idee im kirchlichen Sexualstrafrecht ist, dürfte die größte Überraschung bei dieser Reform sein. Noch vor wenigen Wochen war ein Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden der englischen und walisischen Bischofskonferenz, Kardinal Vincent Nichols, und dem Präsidenten des Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte, Erzbischof Filippo Iannone, bekannt geworden. Darin ging es um die Bitte der Bischofskonferenz, künftig Missbrauch nicht als Verstoß gegen das sechste Gebot, sondern als Straftat gegenüber Minderjährigen im Kirchenrecht zu behandeln, wie es der im November 2020 veröffentlichte Berichts der Regierungskommission zur Untersuchung von sexuellem Kindesmissbrauch (IICSA-Report) geraten hatte. Im Brief sicherte Iannone zu, dass die Bedenken zur Formulierung "gegen das sechste Gebot" bei der Kodexreform bedacht worden seien, kündigte explizit aber nur an, dass derartige Verstöße unter dem neuen Abschnitt geregelt würden. Weithin wurde das so interpretiert, dass auf den Verweis auf den Dekalog komplett verzichtet werden würde zugunsten klarer Tatbestandsmerkmale, was aus den Ankündigungen bei genauer Lektüre allerdings nicht hervorging, aber angesichts der großen Unklarheit der Auslegung von Verstößen "gegen das sechste Gebot" als besonders naheliegende Änderung erschien.
Wenn sich die Kirche mit ihrer Strafrechtsreform also etwas mehr in Richtung rechtsstaatlicher Standards bewegt hat, dann sicher nicht in der genauen Definition von Sexualdelikten. Hier ist weiterhin ein Ausmaß an Auslegung möglich und nötig, die weltlichem Strafrecht fremd ist und fremd sein muss. Ein Bestimmtheitsgebot ist auch nach der Novelle kein Prinzip des kirchlichen Strafrechts.
Die eigentlichen Fortschritte der Kodexreform liegen daher auch an anderer Stelle. Blättert man durch das bisherige Kirchenrecht, konnte man zu dem Schluss kommen, dass eines der höchsten Schutzgüter des CIC nicht, wie oft genannt, das "Heil der Seelen" sei, sondern der Schutz vor Ärgernis, Verwirrung und Skandal. Viele Normen heben auf das öffentliche Ärgernis ab, und mittelbar wie unmittelbar kann man so auch can. 1341 CIC verstehen: Darin wird geregelt, dass der Ordinarius dafür zu sorgen hat, "dass der Gerichts- oder der Verwaltungsweg zur Verhängung oder Feststellung von Strafen nur dann beschritten wird, wenn er erkannt hat, dass weder durch mitbrüderliche Ermahnung noch durch Verweis noch durch andere Wege des pastoralen Bemühens ein Ärgernis hinreichend behoben, die Gerechtigkeit wiederhergestellt und der Täter gebessert werden kann" – das Kirchenrecht selbst rät also zu höchster Zurückhaltung mit der Anwendung seiner ohnehin nur gering ausgeprägten Strafgerichtsbarkeit.
Strafprozesse jetzt nicht nur Recht, sondern Pflicht der Oberen
Dieser Kanon findet sich auch noch nach der Strafrechtsreform, und im neuen Recht heißt es wie bisher klar: "Es ist das angeborene und eigene Recht der Kirche, Gläubige, die Straftaten begangen haben, durch Strafmittel zurechtzuweisen." (can. 1311 § 1 CIC/neue Fassung) Dazu kommt aber neu ein weiterer Paragraph, der diesem Recht auch eine Pflicht beigesellt: Wem in der Kirche die Leitung zukomme, "der muss das Wohl der Gemeinschaft und der einzelnen Gläubigen durch die pastorale Liebe, das Beispiel des eigenen Lebens, durch Rat und Ermahnung und, wenn erforderlich, auch dadurch schützen und fördern, dass Strafen nach den Vorschriften des Gesetzes sowie stets unter Beachtung der kanonischen Billigkeit verhängt und festgestellt werden". Das eröffnet immer noch einen großen Spielraum. Wie dehnbar "kanonische Billigkeit" künftig ist, wird sich zeigen müssen. Es gibt aber eine Stoßrichtung vor: Wenn es zum Strafprozess kommt, ist das zwar ultima ratio, aber kein Versagen in der Deeskalation, sondern der pflichtgemäße Gang.
Derartige detaillierte Vergleiche des alten mit dem neuen Buch VI können ernüchtern; angesichts des Ausmaßes an ungesühnten und vertuschten Verbrechen in der Kirche, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ans Licht gekommen sind, braucht es schon viel Vertrauen in die mahnenden Worte des Papstes in seiner Apostolischen Konstitution "Pascite gregem Dei", mit der er das neue Strafrecht promulgiert hat. "Die Nachlässigkeit eines Hirten bei der Anwendung des Strafrechts macht deutlich, dass er seine Aufgabe nicht recht und treu ausübt", schärft Franziskus ein.
Immerhin: Einige deutliche Verbesserungen hat es gegeben. Mit der expliziten Formulierung der Unschuldsvermutung, dem Recht auf Verteidigung und Regeln zur Verjährung und klareren Regeln zum Strafmaß und der Möglichkeit der Einführung von Geldbußen holt das kirchliche Strafrecht seinen Abstand zu weltlichen Standards der Rechtsstaatlichkeit deutlich auf. Eine gewisse Entklerikalisierung durch die Berücksichtigung nicht mehr allein von klerikalen Tätern macht den universalen Anspruch für das gesamte kirchliche Handeln deutlich. Franziskus löst auch endlich ansatzweise ein, was eigentlich schon seit der ersten einheitlichen Kodifizierung des kirchlichen Rechts 1917 Ziel war: Nämlich die unüberschaubare Zersplitterung des Kirchenrechts in mehr oder weniger bekannte Rechtsquellen, die man sich erst zusammensuchen musste, zu vermindern. Einiges Überschriftentaugliches wie die Normen zum Versuch der Priesterinnenweihe gibt es schon lange, nur eben in anderen Dokumenten.
Das Kölner Missbrauchsgutachten der Kanzlei Gercke und Wollschläger war das deutlichste Beispiel dafür, warum das Bemühen um eine klare und nachvollziehbare Kodifizierung kirchlichen Rechts nicht nur eine optionale ästhetische Fingerübung der Rechtsförmlichkeit ist, sondern handfeste Missstände beheben kann: Im Gutachten wurde der gesamten Kölner Diözesankurie eine "umfassende Rechtsunkenntnis" attestiert. Dazu habe auch die Praxis des Heiligen Stuhls beigetragen, "Gesetzestexte nicht in jedem Fall zu veröffentlichen und nicht dafür zu sorgen, dass sie jedem Rechtsanwender zur Kenntnis gelangten" – das betraf ausgerechnet die Normen zu Sexualdelikten. Dass künftig statt verschiedener Dokumente ein Großteil des Rechts im Hauptgesetzbuch zu finden ist, erleichtert die Rechtsfindung ungemein.
Deutsche Bischofskonferenz arbeitet an neuer Strafgerichtsbarkeit
Der Buchstabe des Gesetzes ist dabei aber nur die eine Seite, und, wie es auch die mahnenden Worte des Papstes in seiner Konstitution andeuten, wohl nicht die wichtigste: Ob das neue Strafrecht nämlich tatsächlich die erhoffte Wirkung erzielt, wird sich in der Umsetzung zeigen. Schon seit 2007 wurde an der nun promulgierten Strafrechtsreform gearbeitet; der Handlungsbedarf war also schon länger deutlich, so dass Planungen für die Umsetzung bereits vor Bekanntwerden des Gesetzestextes beginnen konnten. Bisher sind die kirchlichen Gerichte in den Diözesen vor allem mit Eherecht beschäftigt; einen dementsprechend großen Teil nimmt das kanonische Eherecht auch in den Lehrplänen des Kirchenrechtsstudiums ein. Künftig dürfte das Strafrecht sowohl in der Lehre wie bei der Gerichtsbarkeit deutlich an Stellenwert gewinnen.
Auch institutionell wird das Strafrecht gestärkt: Seit einigen Jahren arbeitet die Deutsche Bischofskonferenz an einer Neufassung der kirchlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland. Im Frühjahr 2020 hatte sie bei ihrer Vollversammlung drei Textentwürfe für die geplante Neustrukturierung vorliegen: Eine Strafgerichtsordnung, eine Verwaltungsgerichtsordnung sowie eine Disziplinarordnung für Kleriker. Sowohl im Straf- wie im Verwaltungsrecht wird so durch eine bistumsübergreifende Zuständigkeit die Chance einer Spezialisierung und Professionalisierung geschaffen. Mit dem Zusammenspiel von schlagkräftiger Strafjustiz und reformiertem Strafrecht stehen die Zeichen für eine bessere Rechtskultur in der Kirche, trotz aller Kritik im Detail, damit heute und für die Zukunft eher günstiger als in all den Jahren, über die man aus diversen Gutachten erfahren hat.