"Verstehst du auch, was du liest?"

Der Lektorendienst – Eine Einführung

Veröffentlicht am 05.06.2021 um 12:45 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Vorlesen kann man jeden beliebigen Text, doch der Dienst des Lektors umfasst mehr als das. Er beginnt schon lange vor dem eigentlichen Gottesdienst. Denn wer überzeugt und überzeugend das Wort Gottes verkünden will, muss sich vorbereiten.

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"Verstehst du auch, was du liest", fragt der Apostel Philippus den äthiopischen Kämmerer, der sich auf seinem Wagen gen Heimat befindet (Apg 8,30). Das ist eigentlich eine überflüssige Frage, denn ganz offensichtlich versteht der Schatzmeister der Kandake überhaupt nichts von dem, was er in seinem Buch vor sich hat. Die Begegnung mit dem Apostel zeigt: Lesen alleine bringt nichts – man muss es schon auch verstehen. Oder anders gewendet: Nur, wenn man selbst verstanden hat, worum es in einem Text geht, kann man auch andere Menschen mit dem wesentlichen Inhalt in Berührung bringen.

Für den Dienst des Lektors jedenfalls ist das eine sehr grundlegende Einsicht, die daher auch ganz am Anfang stehen muss. Manchmal hat man den Eindruck, den Lektorendienst wahrzunehmen, bedeutet: einfach die Lesung vorzulesen. Das mag auf den ersten Blick auch nicht ganz falsch sein, denn die eigentümliche Aufgabe des Lektors ist es eben, die Lesungen des Wortgottesdienstes zu verkünden. Aber schon hier zeigt sich etwas sehr Zentrales: Verkünden ist etwas anderes, als vorlesen. Doch worin besteht eigentlich der Unterschied?

Den Bibeltext überzeugt und überzeugend verkünden

Man könnte es sehr einfach sagen: Vorgelesen werden kann jeder beliebige Text, den man spontan vorgelegt bekommt. Die Betriebsanleitung für die Waschmaschine, die Tageszeitung, den Arbeitsvertrag: Diese Schriftstücke kann man vorlesen, indem man liest, welche Sätze dort aufgeschrieben sind. Verkündigung dagegen ist zunächst einmal natürlich auch ein Vorlesen. Auch bei der Verkündigung der Schrifttexte geht es darum, einen Text vorzulesen, den man sich nicht selbst aussuchen kann, sondern vorgelegt bekommt. Doch Verkündigung meint eben mehr, als vorlesen: "Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht der Mund" (Mt 12,34), heißt es im Matthäusevangelium. Verkündigung ist Herzenssache, sie wird dort möglich, wo man etwas weitergibt, wovon man selbst ganz und gar erfüllt ist. Das gilt insbesondere für die Verkündigung im Gottesdienst. Hier geht es eben nicht um ein bloßes Vorlesen der biblischen Texte, sondern um Verkündigung. Deshalb ist auch die Vorbereitung auf den Lektorendienst von so entscheidender Bedeutung: Nur, wenn man sich selbst von einem Text im Innersten ergreifen lässt, kann man ihn auch überzeugt anderen verkünden.

Das ist eine grundsätzliche Einsicht, die mit dem Lektorendienst sehr eng verwoben ist. Die Schwierigkeit besteht ja eben darin, einen Text so vorzutragen, dass die Hörerinnen und Hörer auch verstehen, um was es in diesem Text geht. Die biblischen Lesungen sind nicht immer einfach oder auf den ersten Blick einsichtig. Sie bieten auch einen weiten Horizont, von hymnenartigen Perikopen bis hin zu Erzählungen mit einem wirklichen Handlungsstrang. Das Problem, das sich dem Lektor stellt, lautet dabei: Wie kann ich den mir vorliegenden Text so zu Gehör bringen, dass die Gemeinde versteht, worum es in diesem Abschnitt geht? Und mehr noch: Wie schaffe ich es, überzeugend zu vermitteln, dass es bei diesem Text nicht nur um ein x-beliebiges Schriftstück geht, sondern dass es sich hierbei um das "Wort des lebendigen Gottes" handelt?

Alles beginnt dabei mit der richtigen Vorbereitung. Wer das Gotteswort verkündigen will, der muss zunächst selbst verstehen, worum es in einem Text geht. Dazu ist es unerlässlich, die Lesungen, die im Gottesdienst gelesen werden soll, im Vorfeld in aller Ruhe selbst zu studieren. Mittlerweile gibt es viele Möglichkeiten, um die sich die Schriftlesungen für alle Tage des Jahres zu besorgen. Bewährtes Mittel ist immer noch das Schott-Messbuch, das auch eine knappe Einführung zu den entsprechenden Lesungen bietet. Auch manche Kirchenzeitungen drucken zumindest die Sonntagslesungen ab, sodass man ohne Mühe auf die biblischen Texte Zugriff hat. Und falls man die entsprechenden Schriftlesungen einmal nicht selbst finden sollte, steht einem sicher der Seelsorger mit Rat und Tat zur Seite.

Bibelstelle: Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
Bild: ©Fotolia.com/hriana (Symbolbild)

Eine aufgeschlagene Bibel mit dem Jesus-Zitat aus Mk 3,35: "Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter."

Die Vorbereitung auf den Lektorendienst beginnt mit dem eigenständigen Lesen und Verstehen. Dazu reicht es meist nicht aus, einfach den Text mehrmals zu lesen. Es müssen auch Fragen geklärt werden, in welchem Zusammenhang die Perikope steht. Handelt es sich um einen Brief, in dem Paulus mahnend den Zeigefinger erhebt? Oder um einen Abschnitt aus dem Alten Testament, in dem ein richtiger Spannungsbogen aufgebaut wird? Die in der Bibel vorkommenden Textgattungen sind sehr unterschiedlich und dies sollte auch bei der Verkündigung der Texte berücksichtigt werden. Die intensive Textarbeit im Vorfeld beginnt daher mit einer sehr persönlichen Auseinandersetzung. Die wichtigste Frage, die dabei im Vordergrund steht, lautet: Habe ich selbst verstanden, worum sich der Text dreht? Das ist auch die eigentliche Aufgabe, die man im Vorfeld zu bewältigen hat: Selbst zu verstehen, um anderen das Verstehen zu ermöglichen. Das freilich ist eigentlich eine ziemliche Mammutaufgabe. Denn während man selbst den Text vor Augen hat und auch mehrmals lesen kann, muss die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde durch einmaliges Hören den Text mit seinem Sinngehalt aufnehmen können. Schon alleine deshalb reicht es nicht aus, biblische Perikopen einfach nur vorzulesen.

Wer kann Gottes Wort schon auf den ersten Blick verstehen?

Die Aufgabe des Lektors beginnt also schon weit vor dem eigentlichen Einsatz im Gottesdienst. Es ist wichtig, sich diese vorbereitende Dimension des Lektorendienstes immer neu zu vergegenwärtigen. Gerade, wenn Lektoren meinen, sie müssten sich den Lesungstext nicht im Vorfeld anschauen, weil sie einen unbekannten Text auch ohne Vorbereitung flüssig vom Blatt lesen können, ist dies vonnöten. Auch das vorbereitende Lesen der Texte vor dem Gottesdienst in der Sakristei ist hier nicht unbedingt weiterführend. Wer kann schon eine Perikope, die nicht auf den ersten Blick einsichtig ist, innerhalb weniger Minuten verstehen und strukturieren?

Es kommt auf die Botschaft an, die man als Lektor an die hörende Gemeinde vermitteln möchte. Hier liegt aber auch das Problem: Wenn man selbst einen Text nur oberflächlich kennt oder nicht verstanden hat, kann man auch anderen das Verstehen nicht ermöglichen. Doch lässt sich das Ganze auch ins Positive wenden: Was mir in diesem Text wichtig geworden ist, das kann ich an meine Hörer weitergeben. Der Lektor steht gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen dem geschriebenen Wort und der konkreten Gemeinde, die sich heute zum Gottesdienst versammelt hat. Und es ist seine Aufgabe, die Gemeinde erahnen zu  lassen, warum diese damals aufgeschriebenen Texte heute von so großer Bedeutung sind. Oder anders gesagt: In den Schriftlesungen spricht der lebendige Gott Menschen an, die sich vor seinem Angesicht versammelt haben. Die Verkündigung der Schrift stiftet Beziehung zwischen Gott und den Menschen, sie nimmt die Gemeinde mit hinein in die Heilsgeschichte und gliedert sie ein in die lange Reihe von Glaubenden, die sich vom Gotteswort haben in Dienst nehmen lassen. Das ist die Aufgabe des Lektors, wenn er der Gemeinde das Wort Gottes verkündet.

Der Lektorendienst ist vielgestaltig und vielschichtig. Er erschöpft sich bei Weitem nicht im Vorlesen irgendeines biblischen Textes. Es ist wichtig, diese tiefgreifende Dimension des Lektorendienstes immer neu zu entdecken und zu bewahren. Wenn der Umgang mit dem Gotteswort in der Feier des Gottesdienstes allzu beliebig wird, droht die Gefahr, dass die Gemeinde überhaupt nicht mehr wahrnimmt, was beim Hören dieser biblischen Texte geschieht. Gott selbst spricht durch sie zu den Menschen; er, der seine Gemeinde zusammenruft, ist in seinem Wort ganz und gar in ihrer Mitte gegenwärtig. Dieses Wort im Gottesdienst verkünden zu dürfen, muss daher als wirkliche Aufgabe wahrgenommen werden, die aber für jeden, der sie in der rechten Weise ausübt, zum Geschenk werden kann.

Von Fabian Brand

Weiterführende Informationen

Das Katholische Bibelwerk stellt auf seiner Webseite Hilfen und weiterführende Informationen zum Lektorendienst zur Verfügung.

Weiterführende Literatur

Stefan Böntert, Nicole Stockhoff: Dem Wort Gottes eine Stimme geben. Leitfaden für den Lektorendienst, Verlag Herder 2020, ISBN: 978-3-451-38512-4.