Das Rücktrittsgesuch aus Sicht von Vatikan und Weltkirche

Marx bleibt im Amt: Ein Reformzeichen für die ganze Kirche

Veröffentlicht am 15.06.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx hatte seinen Rücktritt angeboten, der Papst hat ihn aber nicht gewährt. Damit habe Franziskus ein Zeichen für Synodalität und Reform gesetzt, analysiert Vatikan-Kenner Christopher Lamb in seinem Gastbeitrag. Es blieben jedoch Differenzen.

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Dass Papst Franziskus das Rücktrittsangebot von Kardinal Reinhard Marx nicht angenommen hat, ist eine Bestätigung für Marx' Position, dass die Kirche dringend Reform und Erneuerung braucht. Trotz der heftigen Kritik, die der Synodale Weg in Deutschland von einigen in Rom und den Vereinigten Staaten erfährt, ist die Unterstützung von Marx durch den Papst ein Vertrauensvotum für die synodalen Reformen, die der Erzbischof von München und Freising eingeleitet hat. Indem er den Kardinal in seinem Amt belässt, weist der Papst auch alarmistische Stimmen zurück, die behaupten, die deutsche Kirche steuere auf ein "Schisma" zu, und stärkt gleichzeitig einen seiner engsten Verbündeten.

Trotzdem bleiben Spannungen zwischen Rom und Deutschland darüber bestehen, welche Art von synodalem Prozess die Kirche einschlagen sollte und inwieweit Bischöfe für die sexuelle Missbrauchskrise der Kirche Verantwortung übernehmen sollten.

Synodale Reformen sieht Franziskus in erster Linie als ein Vehikel, um die Mission der Kirche an die Ränder der Gesellschaft und die Botschaft des Evangeliums zu den Ärmsten zu bringen. Er fühlt sich weniger wohl mit Synoden, die sich auf "umstrittene" Themen wie die Frauenweihe, den priesterlichen Zölibat und die Sexualmoral fokussieren. Der Papst glaubt, dass Reformen in diesen Bereichen nur durch einen weltkirchlichen Konsens zustande kommen können. Deshalb hat er gegenüber dem Synodalen Weg Vorbehalte, glaubt aber dennoch fest an die Freiheit der Ortskirchen für deren je eigene Prozesse.

Ein Erdbeben mit langen Schockwellen

Der Rücktritt von Kardinal Marx war ein Erdbeben, dessen Schockwellen die Kirche in Rom und darüber hinaus erschütterten. Von dem 67-Jährigen hätte niemand erwartet, dass er acht Jahre vor dem Rentenalter freiwillig seinen Rücktritt anbietet. Oft als "Panzerkardinal" bezeichnet, gilt er als entschlossene, reformfreudige Persönlichkeit, die als Mitglied des päpstlichen Kardinalsrates und Koordinator des Wirtschaftsrates des Heiligen Stuhls großen Einfluss ausübte. In Rom ist Marx dafür bekannt, dass er keine Angst davor hat, auch mal mit der Faust auf den Tisch zu hauen, um seinen Standpunkt deutlich zu machen; außerdem für seine Bereitschaft, Veränderungen umzusetzen. Das hat ihm Widersacher beschert. Dass Marx Dinge möglichst sofort umsetzen will, kollidiert oft mit der Mentalität der römischen Kurie, die gerne in Jahrhunderten denkt. Infolgedessen haben einige in Rom versucht, jeden seiner Schritte zu vereiteln, ob es nun um den Synodalen Weg oder die Abendmahlgemeinschaft mit Nicht-Katholiken geht.

Doch das Rücktrittsangebot hat eine andere Seite des Kardinals gezeigt. Hinter dem nach außen hin so treibenden und entschlossenen Kirchenmann ist eine sensiblere Figur zum Vorschein gekommen; jemand, der bereit war, seine mächtige Position aufzugeben. Das Anliegen zeigte ein akutes Bewusstsein für die Notwendigkeit, dass die Kirche Verantwortung für die Missbrauchskrise übernehmen muss.

Bild: ©picture alliance/SvenSimon/Frank Hoermann

Das Rücktrittsangebot hat eine andere Seite des Kardinals gezeigt.

Mehrere Jahre lang war der Kardinal die treibende Kraft und der finanzielle Unterstützer von Initiativen in Rom, um die Krise des sexuellen Missbrauchs zu bewältigen. Dazu gehörten die erste Missbrauchskonferenz an der Päpstlichen Universität Gregoriana im Jahr 2012, die Gründung des Zentrums für Kinderschutz und der wegweisende Bischofsgipfel im Jahr 2019. Er spendete 500.000 Euro aus seinem Privatvermögen, um die Stiftung "Spes et Salus" zur Unterstützung von Missbrauchsüberlebenden zu gründen. Er hat Zeit mit Missbrauchsopfern verbracht, ihre Geschichten gehört und versucht, ihre Stimme in den Mittelpunkt der Antwort der Kirche auf diese Krise zu stellen.

Status quo der Kirche unhaltbar

Doch mit dem Rücktrittsangebot ist Marx noch einen Schritt weiter gegangen: Er machte in dramatischen Worten deutlich, dass der Status quo in der Kirche unhaltbar ist und es einen "Wendepunkt" geben müsse. Anstatt nur über die Notwendigkeit von Veränderungen zu reden, bot der Kardinal an, etwas Radikales zu tun. Sein Rücktritt schickte die Botschaft: Hohe Posten sind weniger wert als die Verkündigung des Evangeliums und die Glaubwürdigkeit der Kirche. Marx schrieb dazu mit einem Jesus-Zitat an den Papst: "Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden." (Mt 16,25)

Darüber hinaus ist er einer der einflussreichsten Kardinäle in der Kirche, der versucht hat, die Verantwortung für die "Katastrophe" des Missbrauchs auf institutioneller Ebene zu übernehmen. Er bot seinen Rücktritt nach dem Prinzip der "ministeriellen Verantwortung" an, des (in Großbritannien entwickelten) Brauchs, dass ein Regierungsminister bei einem Skandal in seinem Ressort zurücktritt, auch wenn er persönlich keine Schuld trägt.

In seinem Antwortbrief stellt sich der Papst hinter die Analyse von Marx. Jeder einzelne Bischof in der Kirche müsse sich mit Blick auf Missbrauchsfälle fragen: "Was soll ich angesichts dieser Katastrophe tun?" Wie der Kardinal glaubt auch Franziskus, dass die Bischöfe persönliche und institutionelle Verantwortung für den Missbrauch übernehmen müssen. Trotz des Widerstands in bestimmten Teilen der Welt hat der Papst nun Leitplanken gesetzt.

Institutionelle Schuld der Kirche

Einige in Rom halten von der Idee der institutionellen Schuld der Kirche nichts. Nach dem Rücktrittsangebot von Kardinal Marx bestritt der spanische Kardinal Julián Herranz (91), ein ehemaliger hochrangiger Jurist im Vatikan, Marx' Argumente, ohne ihn jedoch namentlich zu nennen. Er argumentierte in einem Brief für die Titelseite der Vatikanzeitung "L'Osservatore Romano", Missbrauch und seine Vertuschung seien ein persönliches, moralisches Versagen – nicht ein institutionelles. Der italienische Kardinal Fernando Filoni, einst päpstlicher Stabschef von Benedikt XVI. und Leiter der Abteilung für Missionsarbeit, hat in der Vergangenheit eine ähnliche Linie vertreten. Beide Positionen deuten auf eine Denkweise hin, die nur eine Kirche der Sünder sieht und nicht eine reformbedürftige "sündige Kirche". Diese Sichtweise passt jedoch nicht zur Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), laut der die Kirche – und nicht nur ihre Mitglieder – ständig der Reform und der Läuterung bedarf. Sie weist auf einen Teil des Widerstands in Rom hin, der sich gegen die aus dem Missbrauch ergebenden institutionellen Implikationen richtet, auf die die synodalen Prozesse weltweit eingehen.

Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Im Vatikan ist man besorgt über einen Dominoeffekt.

Bewegen sich die Dinge also immer noch zu langsam? Wäre Marx' wirklich zurückgetreten, hätte das einen Präzedenzfall geschaffen und den Druck auf andere Bischöfe erhöht, nicht nur in Deutschland. Im Vatikan ist man besorgt über so einen Dominoeffekt: Ja, Bischöfe müssen zur Rechenschaft gezogen werden, aber es gibt Bedingungen dafür.

Franziskus wird alle Implikationen der Annahme von Marx' Rücktritt bedacht haben, bevor er seine Antwort gab. Der Papst hat keine Angst vor Massenrücktritten. Schließlich bat nach seinem Gipfel mit den chilenischen Bischöfen zum Thema Missbrauch im Jahr 2018 die gesamte Bischofskonferenz um ihren Rücktritt.

Bischöfe nicht als "Filialleiter"

Andererseits sieht der Papst einen Bischof nicht als Regierungsminister oder "Filialleiter", sondern als Vater seiner Herde. Deshalb gab er Marx mit auf den Weg, er solle weitermachen und erinnerte daran, dass der heilige Petrus sich zwar als Sünder sah, aber dennoch von Jesus beauftragt wurde, "die Schafe zu hüten."

Die Akzeptanz des Rücktritts wäre auch kontraproduktiv für den Papst und sein Projekt der Kirchenerneuerung gewesen. Marx ist einer der stärksten Verbündeten von Franziskus, dessen Organisationstalent, Rat und Unterstützung gebraucht wird. Und während einige in der Kirche ausweichen oder sogar Widerstand leisten, hat der Kardinal die Initiative zur Synodalität ergriffen, etwas, von dem der Papst sagt, dass "der Herr es von der Kirche im dritten Jahrtausend erwartet".

Das bedeutet nicht, dass Franziskus nicht weiterhin seine Bedenken gegenüber dem Synodalen Weg in Deutschland äußern wird. In seinem Brief an Marx weist er darauf hin, dass "die Macht der Institutionen uns nicht retten wird", ebenso wenig wie die "Macht des Geldes oder die Meinung der Medien." Will heißen: Er warnt vor der Versuchung, dass eine wirkliche Reform durch institutionelle Reorganisation oder die Durchsetzung von Partikularinteressen gelingen kann.

Indem er Marx im Amt belässt, hat der Papst einen seiner Brüder im Glauben bestätigt, ihn ermutigt und ihm eine klare Zustimmung gegeben, den begonnenen Weg der Erneuerung fortzusetzen. Es mag Meinungsverschiedenheiten darüber geben, wie dieser Weg am besten gelingen kann, aber der Papst und der deutsche Kardinal sind sich einig in der Überzeugung, dass die einzige Option für die Kirche darin besteht, einen Weg der Reform zu verfolgen.

Von Christopher Lamb

Der Autor

Christopher Lamb (*1982) ist Rom-Korrespondent der britischen katholischen Wochenzeitung "The Tablet". Zudem berichtet er unter anderem für die BBC aus dem Vatikan. Gerade erschien sein Buch "The Outsider" (Orbis Books) über Papst Franziskus und seine Kritiker. (Text aus dem Englischen übersetzt von Christoph Paul Hartmann.)