Dogmatiker kritisiert Antwortschreiben von Franziskus als "Symbolpolitik"

Theologe Essen: Annahme von Marx-Rücktritt wäre richtig gewesen

Veröffentlicht am 15.06.2021 um 12:54 Uhr – Lesedauer: 

Berlin ‐ Die Annahme des Rücktrittsgesuchs von Kardinal Reinhard Marx wäre der richtige Schritt von Papst Franziskus gewesen, sagt der Berliner Dogmatiker Georg Essen. "Die Wucht einer solchen Entscheidung entspräche dem Ausmaß der Katastrophe."

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Aus Sicht des Berliner Dogmatikers Georg Essen wäre die Annahme des Amtsverzichts von Kardinal Reinhard Marx durch Papst Franziskus der richtige Schritt gewesen, um Verantwortung für den Missbrauchsskandal der Kirche zu übernehmen. "Die Wucht einer solchen Entscheidung entspräche dem Ausmaß der Katastrophe. Das wär's gewesen!", sagte der Theologe in einem am Dienstag auf der Internetseite der Berliner Humboldt-Universität (HU) veröffentlichten Interview.

Den Brief von Papst Franziskus kritisierte Essen als "Symbolpolitik", die Anliegen der Missbrauchsbetroffenen nehme der Papst nicht ernst. "Die Rollenprosa ist hier doch die Zwiesprache von Bruder zu Bruder, die wiederum durchherrscht wird vom Gehorsam, die der eine dem anderen schuldet", so der Leiter des Instituts für Katholische Theologie an der HU. "Ein frommer Brief über Schuld und Vergebung ist das Schreiben gewiss. Aber, wieder einmal, kommen die Opfer nirgends vor; deren Perspektive spielt zwar bei Kardinal Marx, nicht jedoch im päpstlichen Antwortschreiben eine Rolle."

Studien würden "männerbündlersichen Klerikalismus" entlarven

Auch die Korrektur des Frauenbildes in der katholischen Kirche spiele in der aktuellen Diskussion um sexuellen Missbrauch in der Kirche eine große Rolle. "Alle Studien über den Missbrauchsskandal entlarven den in der Kirche herrschenden männerbündlerischen Klerikalismus, der ja nur noch peinlich wirkt und hier vor allem gerade auch auf Frauen", kritisierte Essen. Diese Studien würden zudem "massive Defizite" in den innerkirchlichen Leitungsstrukturen aufdecken, wo auch bestimmte Umgangsformen und Kommunikationskulturen fehlten. "Das wiederum hat auch damit zu tun, dass es keine Frauen in den Führungsetagen der Kirche gibt, die in einem rechtlich amtlichen Verständnis über Entscheidungs- und Leitungsvollmacht verfügen."

Die Zukunft von Kardinal Marx in der katholischen Kirche in Deutschland sei indes ungewiss. "Keiner vermag zu sagen, wo im deutschen Katholizismus künftig sein Platz sein wird. Aber vielleicht ist es auch gar nicht an ihm, sich – erneut – konturenstark in der Öffentlichkeit zu positionieren." Er sei sehr gespannt, ob die Deutsche Bischofskonferenz bald starke Zeichen in der Öffentlichkeit zu setzen vermöge, mit denen sie deutlich signalisiere, "dass der Kirche von Deutschland tatsächlich es ernst ist mit jener schonungslosen Aufarbeitung, von der bereits seit zehn Jahren gesprochen wird", sagte Essen. "Vielleicht wäre es ganz gut, wenn die deutschen Bischöfe sich die Spiritualität des 'toten Punktes' zu eigen machen würden, die das Rücktrittsersuchen des Münchener Erzbischofs prägt." 

Angesprochen auf die Proteste am vergangenen Wochenende in Köln sagte Essen, diese signalisierten, dass Kardinal Rainer Maria Woelki die Legitimität für seine Amtsführung verloren habe. Woelki besitze nur noch Macht, habe seine Autorität jedoch verspielt. "Auch der Inhaber legaler Macht, die ein Erzbischof ja hat, ist nur so lange souverän, wie er der Zustimmung der ihm Anvertrauten noch gewiss und sicher sein darf." (cbr)