Kolumne: Mein Religionsunterricht

Gedichte: Eine Wirkmacht für Lehrer – und Schüler

Veröffentlicht am 18.06.2021 um 15:45 Uhr – Lesedauer: 

Wentorf ‐ Ein Himmel ohne Kultur? Das wäre für Lehrer Heinz Waldorf nichts. Insbesondere Gedichte geben ihm Kraft für seine Arbeit – und entfalten auch im Reli-Unterricht ihre Wirkkraft. Darin sieht er Parallelen zu Menschen, die damals Jesus begegnet sind.

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Ein Leben ohne Gedichte wäre für mich sinnlos. Sie sind ein Schatz, aus dem ich ohne Mühe an jedem Ort und zu jeder Zeit schöpfen kann. Und als vor einigen Wochen meine Physiotherapeutin, mit der ich in den Behandlungen wunderbar tiefsinnige Gespräche führen konnte, meinte, der Himmel sei ihrer Meinung nach frei von diesen weltlichen Dingen, die man nicht festhalten solle, kam mir dieser Ort gar nicht mehr so verlockend vor, wie es einem wackeren Christenmenschen geziemen mag. Ich erwarte nicht nur einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt, sondern mindestens so sehr eine umfassende Bibliothek, in der ich all die für die Ewigkeit gemachten Werke der Literatur und der Musik finden möchte, welche die Zeit nicht überdauert haben, die vernichtet worden sind oder für deren Genuss in diesem kurzen Leben einfach kein Raum gewesen ist. Mindestens die vielen verloren gegangenen Kantaten Johann Sebastian Bachs würde ich gern hören. Das wäre ein wahres Paradies für mich!

Vorerst bin ich voll und ganz begeistert von der Reihe mit Monatsgedichten, einer verlegerischen Großtat des Reclam-Verlags (aktuell: Juni: Gedichte. Stuttgart 2014 (Reclams UB Nr. 19116). Wie viele wunderbare Werke, von denen ich sicher niemals gehört hätte, sind in diesen kleinen Büchern für die Westen- oder Hosentasche, die ich überall hinschleppe und die meine Frau und ich auf unseren Wanderungen stets im Gepäck haben, schon jetzt dem Vergessen entrissen worden! Eschatologischer Vorbehalt ganz und gar geerdet, würde ich sagen. Genauso, wie man bereits hier und jetzt den großen Frieden antizipieren kann durch Friedfertigkeit und Liebe, kann man hier und jetzt bereits damit beginnen, Menschen und ihre Werke dem Vergessen zu entreißen. Wie gesagt hoffe ich inständig, dass Gott am Ende der Tage dieses Stückwerk vollenden wird.

Die großen Fragen des Lebens

Was das mit meinem Religionsunterricht zu tun hat? Nun, der fällt nicht vom Himmel! Ich bin an vielen Tagen durchaus belastet von der immerwährenden Beschäftigung mit den großen Fragen des Lebens; von der Erfahrung, dass es vielen Zeitgenossen leichter erscheint, sie nicht zu stellen und sich mit den schnellen "Antworten" zufrieden zu geben; vom Wissen, dass der Religionsunterricht in der schulischen Landschaft häufig keinen großen Stellenwert besitzt. Da muss ich schon was tun für mein Wohlergehen!

Tische und Stühle stehen in einem Klassenraum im Aloisiuskolleg in Bonn am 8. Juli 2019. Über der Tür hängt ein Kruzifix.
Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht (Symbolbild)

Gedichte geben Religionslehrer Heinz Waldorf Kraft für seinen Unterricht. Und auch seine Schüler bindet er mit ein.

Unter normalen Bedingungen fahre ich zwei-, dreimal in der Woche mit dem Rad die 12 Kilometer zum Gymnasium nach Großhansdorf. Ich komme an einem See vorbei und habe eigentlich immer mindestens zehn Minuten Zeit, mich dort hinzusetzen, die jahreszeitenspezifische Atmosphäre kurz nach sieben Uhr zu genießen und in dem jeweils aktuellen Reclam-Bändchen ein oder zwei Gedichte zu lesen, manche auch mit der Zeit auswendig zu lernen. Ohne diese Oasen, in denen ich absolute Friedfertigkeit spüre und mich mein Lebensmantra aus einem Gedicht von Nelly Sachs "Du bist in der Gnade" ummantelt, könnte ich meine Arbeit nicht schaffen. Nach den zehn Minuten am See bin ich glücklich. Ich bin inspiriert und motiviert und weiß irgendwie, dass an diesem Tag nichts geschehen kann. Es ist wie ein Gebet und zugleich wie ein Zuspruch.

Eine der Entdeckungen im Juni-Gedichteband ist "Die Erdbeere" von Ferdinand von Saar. Wie es eben auf dieser Erde so ist, pflückt die Erdbeere "das Kind der Not", welches angesichts der prangenden Fülle eigenes Verlangen unterdrücken muss, weil die geernteten Früchte zum geizigen Händler getragen werden müssen, damit sie sich schließlich "auf dem Tisch des Reichen, der zu bezahlen weiß" wiederfinden. "O liebende Natur", seufzt die letzte Strophe, "selbst deine freieste Gabe" dient dem Wucher und "wird zur Menschenhabe".

Erinnerungsarbeit im Reli-Unterricht

Wie wichtig, dachte ich mir in dieser Woche, ist auch hier eine Erinnerungskultur, die daran arbeitet, dass existentielle Ideen von Menschlichkeit nicht in Vergessenheit geraten. Die in der jüdischen Tradition aufscheinende Idee, dass jeder Mensch einen Ort zu wohnen und ein Stück Land zum Leben haben sollte – so wenig sie jemals Realität geworden ist, scheint sie doch in diesem Gedicht des 19. Jahrhunderts und mir an diesem Morgen am See wieder auf. Ich bin inspiriert, die Idee lebendig zu halten und in meinem Religionsunterricht Erinnerungsarbeit zu leisten. Ich weiß, dass dies vielen meiner Schülerinnen und Schülern etwas bedeutet. Und das ist der Maßstab. Wem es verrückt erscheint, dem kann ich nur sagen, dass der Verrückte sich in guter Gesellschaft befindet. Und verrückt so gelesen: ver – rückt, macht vielleicht deutlich, worum es geht. Es ist ein kleiner Schritt nach rechts oder links – und schon sieht man die Dinge aus einer etwas anderen Perspektive. Das soll man doch in der Schule lernen, oder? Ist der Gedanke "Erdbeeren für jeden" (natürlich als Metapher zu lesen!) schon einer, der unsere Phantasie überfordert?

Im Juni-Band befindet sich auch ein kleines Gedichtchen von Christian Morgenstern, das mir an diesem Morgen noch ins Auge fiel. Warum, habe ich mich gefragt, trauen wir unseren Träumen so wenig? Mein Religionsunterricht soll "Traum-Werkstatt" sein. Es ist beruhigend, von solch einem Mann wie Christian Morgenstern Zuspruch zu erfahren!

Als ich vor einiger Zeit in Wentorf meinen Q1-Jahrgang wiedersehen konnte, fiel auf diesen Tag der 100. Geburtstag Erich Frieds. "Was es ist" und "An eine Nervensäge" hatte ich als Geschenk für meinen Kurs im Gepäck. Das mache ich immer wieder, einfach so und auch, um meinen Beitrag zur Wertschätzung von Künstlern zu leisten, die für meine Begriffe nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Was man noch Weiteres zu bedingungsloser Liebe sagen könnte als das, was Erich Fried in seinen beiden Gedichten gelungen ist, weiß ich wirklich nicht. Es trat jedenfalls wieder diese eigenartige Stille in den Raum, die es immer gibt, wenn etwas ankommt und die Menschen trifft. Ich habe meine Fried-Bände dann gleich ausgeliehen und weiß, dass eine Schülerin sich Erich Fried gekauft hat. Ich bin stolz auf diese Schülerin – sie heißt Amélie – weil sie auf ihre Weise sehr einfach bezeugt, dass der Unterricht wirkmächtig sein kann. Ja, ich achte dies sehr hoch, gerade weil es absolut unspektakulär ist und nichts mit einem Einserschnitt im Abi zu tun hat. Nach solch einer Stunde, nach solchen Erlebnissen ist die Welt eine andere. So mag es den Menschen ergangen sein, die damals Jesus begegnet sind. Die Welt hatte sich nicht wirklich verändert – sie hat sich meiner Einschätzung nach bis heute nicht wirklich verändert –, und dennoch war sie eine andere, weil einen Moment Sinn aufschien und Realität wurde. Und dieser Sinn ist damals wie heute nicht mehr aus der Welt zu schaffen! Und wenn man will, kann man sich an ihm orientieren – und möglicherweise herzzerreißende Gedichte entdecken. Zeit wäre ja jetzt – in einem hoffentlich großen Sommer, den ich allen herzlich wünsche.

Von Heinz Waldorf

Der Autor

Heinz Waldorf ist Lehrer am Gymnasium Wentorf bei Hamburg.

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Wie funktioniert Religionsunterricht heute? Genau dieser Frage geht die neue katholisch.de-Kolumne nach. Lehrer verschiedener Schulformen berichten darin ganz persönlich, wie sie ihren Unterricht gestalten, damit sie die Jugend von heute noch erreichen.