Wenn der Weg zur Ehre der Altäre über den Plenarsaal führt

Heilige mit Parteibuch – Kommen Politiker in den Himmel?

Veröffentlicht am 10.07.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Ordensleute, Märtyrer, Jungfrauen – das sind die Standardbiographien von Heiligen und Seligen. Auch Adelige, Fürsten und Königinnen gibt es einige. Aber Politiker? Nach dem Vorbild des heiligen Thomas Morus werden es immer mehr – doch der Weg zur Heiligkeit ist für sie schwieriger als für andere.

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Heilige gab es zu allen Zeiten. Auch wenn das Bild der vorbildlichen Diener Gottes geprägt ist von den klassischen Heiligen aus den Orden wie Franz von Assisi und Hildegard von Bingen oder Märtyrern wie dem ersten Diakon Stephanus und der heiligen Agatha, spielte auch immer die Politik eine Rolle – die Reihe der seligen und heiligen Fürsten und Königinnen ist lang.

Mit der Seligsprechung 1886 und der Heiligsprechung 1935 wurde mit dem englischen Lordkanzler Thomas Morus auch ein hauptberuflicher Politiker zur Ehre der Altäre erhoben – er starb als Märtyrer, weil er den Anspruch des englischen Königs Heinrichs VIII. auf die Führung der Kirche von England nicht anerkennen wollte. Seit gut 20 Jahren ist Morus auch als Patron für seine Berufsgruppe zuständig: Papst Johannes Paul II. bestellte ihn im Jahr 2000 zum Schutzheiligen der Regierenden und Politiker, weil "die Welt der Politik und Verwaltung den Bedarf an glaubwürdigen Vorbildern spürt", so das Motu proprio zu seiner Ernennung.

Bild: © (Archivbild)

Morus wird dort als Beispiel für Politik aus christlicher Verantwortung beschrieben. Sein Leben lehre, dass das Regieren vor allem "Übung der Tugend" sei. Papst Johannes Paul II. gewinnt aus der Biographie des Heiligen ein christlich-politisches Programm: Morus habe sein öffentliches Wirken "in den Dienst der Person" gestellt, "besonders wenn es sich um schwache oder arme Menschen handelte; er führte die sozialen Auseinandersetzungen mit einem besonderen Sinn für Gerechtigkeit; er schützte die Familie und verteidigte sie mit unermüdlichem Einsatz; er förderte die umfassende Erziehung der Jugend".

Heilige Fürsten – Legitimation der Macht

Dass Politik und Heiligkeit Schnittmengen haben, wirkt angesichts der weithin verinnerlichten Trennung von Kirche und Staat heute ungewohnt. Heilige aus Herrscherhäusern als staatstragende Symbolfiguren wie der heilige König Stephan von Ungarn passen kaum mehr in die Zeit, und Bestrebungen, Vorgänger zur Legitimation der eigenen Macht zu kanonisieren, wie es dem Habsburgerkaiser Friedrich III. 1485 für Markgraf Leopold III., dem späteren Landespatron von Österreich, gelang, sind heute kein Mittel der Politik mehr.

Anders als bei Monarchen von Gottes Gnaden beziehen moderne Politiker ihre Legitimation nicht von oben, sondern von unten, vom Volk – und Realpolitik und die Notwendigkeit, Kompromisse zu schließen, wirken nicht eben förderlich auf einen heiligmäßigen Lebensstil. Gerade zeigt sich das an der Diskussion um den US-Präsidenten Joe Biden: Musste der erste katholische US-Präsident John F. Kennedy noch Befürchtungen zerstreuen, ein katholischer Politiker stehe in der Gefahr zu großer Abhängigkeit von seiner Kirche und dem Papst, muss sich Biden aufgrund seiner Abtreibungspolitik massiver Kritik seitens weiter Teile der US-Bischofskonferenz stellen.

Papst Franziskus und Joe Biden im Jahr 2016 im Vatikan.
Bild: ©picture alliance/zumapress.com/Giuseppe Ciccia (Archivbild)

Zu Lebzeiten steht US-Präsident Joe Biden nicht im Ruf der Heiligkeit – jedenfalls nicht bei den Bischöfen seines Landes, die eine eher gespaltenes Verhältnis zu ihm haben.

Dabei sind Kompromisse nicht per se problematisch, wie auch der ehemalige Präfekt der Heiligsprechungskongregation, Kardinal José Saraiva Martins in einem Interview mit einer italienischen Zeitung betonte. Kompromisse dürfe man nicht mit einem "Feilschen zum Nachteil von Wahrheit und Gerechtigkeit" verstehen. "Dann wären alle Politiker automatisch disqualifiziert", so Martins. In der Politik sei es aber nie möglich, alle Ziele zu erreichen, und oft gibt es mehrere legitime Optionen – hier Kompromisse zu schließen, sei zulässig. "Gott hat eine Ordnung im Universum geschaffen. Aber innerhalb dieses Rahmens will er die freie und verantwortliche Mitarbeit der Menschen an der Vollendung des Schöpfungswerkes auf Grundlage ihres eigenen, richtig gebildeten Gewissens", so der Kardinal, der der Heiligsprechungskongregation von 1998 bis 2008 vorstand.

Märtyrer des zwanzigsten Jahrhunderts

Im 20. Jahrhundert verbindet man mit politischen Seligen und Heiligen vor allem die Märtyrer des Widerstands gegen totalitäre Systeme wie den seligen Gewerkschafter und Funktionär der Katholischen Arbeiterbewegung Nikolaus Groß, der 1945 nach einem Schauprozess in Plötzensee ermordet wurde. Und doch gibt es Politiker, die in Friedenszeiten und von der Kirche kanonisiert werden. Ein frühes Beispiel und die vielleicht erste selige demokratische Politikerin ist Hildegard Burjan (1883–1933). Die Österreicherin wurde 1919 bei der ersten Wahl, bei der Frauen das volle Wahlrecht hatten, als christlichsoziale Abgeordnete in die österreichische Konstituierende Nationalversammlung gewählt, nachdem sie zuvor schon Mitglied im Wiener Gemeinderat war. Im Parlament kämpfte sie für Gleichberechtigung. "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" war ihre heute noch aktuelle Forderung. Sie blieb allerdings nur ein Jahr Abgeordnete, um sich danach sozialen Aufgaben zu widmen und zu einer Pionierin der modernen Sozialarbeit zu werden. 2012 wurde sie im Wiener Stephansdom seliggesprochen.

Ein Banner mit dem Foto von Hildegard Burjan hängt bei ihrer Seligsprechung am 29. Januar 2012 im Wieder Stephansdom.
Bild: ©picture alliance/dpa/Andreas Pessenlehner (Archivbild)

Die selige Hildegard Burjan (1883-1933) war eine Politikerin, Ordensgründerin und Kämpferin für Frauenrechte. 2012 wurde sie seliggesprochen.

Schon acht Jahre zuvor wurde Alberto Marvelli als Seliger kanonisiert: Der Ingenieur und Gewerkschafter war bereits mit 18 Jahren Präsident der italienischen Katholischen Aktion. Im Zweiten Weltkrieg setzte er sich für Obdachlose und Verwundete ein und rettete während der deutschen Besatzungszeit Verfolgte vor der Deportation in Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Nach dem Krieg wirkte er als Stadtrat und Mitglied des Vorstands der neugegründeten Christdemokraten. Den Erfolg seiner Kandidatur bei den Kommunalwahlen 1946 erlebte er nicht mehr: Er starb, als er auf dem Fahrrad auf dem Weg zu einer Wahlveranstaltung von einem Lastwagen angefahren wurde. "Im Gebet suchte er auch Inspiration für das politische Engagement in der festen Überzeugung, dass es notwendig ist, in der Zeitgeschichte ganz als Kinder Gottes zu leben, um sie zur Heilsgeschichte zu machen", sagte Papst Johannes Paul II. über ihn.

Alberto Marvelli (Mitte) als Soldat im Zweiten Weltkrieg
Bild: ©Romano Siciliani/KNA (Archivbild)

Während des Zweiten Weltkriegs war Alberto Marvelli (Mitte) in Treviso stationiert , wo er an der Organisation von Hilfsaktionen und karitativen Arbeiten mitwirkte. Nach seiner Rückkehr nach Rimini (die Stadt wurde am 23. September 1944 befreit ) gelang es ihm, viele junge Menschen vor der Deportation zu bewahren, indem er gefälschte Papiere und Pässe beschaffte und sogar versiegelte Waggons öffnete, die vom Bahnhof Santarcangelo abfuhren (noch nicht freigegeben). In Rimini kümmerte er sich um den Wiederaufbau.

Gründerväter der EU auf dem Weg zur Seligsprechung

Burjan und Marvelli waren keine herausragenden Staatsmänner und -frauen. Ihr Wirken war vor allem durch ihr soziales Engagement und ein ein kurzes Leben geprägt. Älter wurde der Laiendominikaner und zweite Bürgermeister von Florenz, Giorgio La Pira, der 1977 73-jährig starb und der an der italienischen Nachkriegsverfassung mitgearbeitet hatte. Ihm wurde 2018 der heroische Tugendgrad zuerkannt. Dass die Kirche auch in der ersten Reihe der Politik Heiligkeit erkennen kann, zeigen zwei andere Personalien, beide verbunden mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und der europäischen Einigung: Robert Schuman und Alcide De Gasperi. Der italienische Ministerpräsident De Gasperi, mit dem auch Marvelli eng zusammengearbeitet hatte, setzte sich für die Westintegration Italiens, den Beitritt zur NATO, und, vielleicht am wichtigsten, mit Schuman und dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer für den Aufbau der Montanunion ein, eine der Vorgängerinstitutionen der Europäischen Union. Schuman war als französischer Außenminister ein Motor der deutsch-französischen Aussöhnung. De Gasperi (1954) wie Schuman (1958–1960) waren später auch Präsidenten des Europäischen Parlaments.

De Gasperi und Schuman sind noch keine Seligen – ihnen fehlt noch das Wunder, das zur Seligsprechung benötigt wird, wenn davon nicht aufgrund eines Märtyrertods dispensiert wird. De Gasperi wurde schon 1993 von Papst Johannes Paul II. der "heroische Tugendgrad" zuerkannt, die erste wichtige Stufe auf dem Weg zur Seligsprechung, Schuman hat erst jüngst Ende Juni diese Hürde genommen.

Nikolaus-Groß-Skulptur in der Kirche St. Mauritius in Hattingen-Niederwenigern.
Bild: ©Achim Pohl/Bistum Essen (Symbolbild)

Für den Gewerkschafter und Widerstandskämpfer Nikolaus Groß gibt es eine Skulptur in der Kirche St. Mauritius in Hattingen-Niederwenigern. Der selige Märtyrer war Mitglied der Zentrums-Partei.

Die Heiligsprechungskongregation betont in ihrer Biographie des neuen "ehrwürdigen Diener Gottes", dass Schuman seine politische Karriere "als Mission und Verpflichtung zum Apostolat auf sich nahm". Bei der Aufzählung seiner frühen politischen Schwerpunkte zählt der Vatikan die Verteidigung des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl in seiner Heimat, dem Departement Moselle, noch vor dem Einsatz für die soziale Gerechtigkeit auf. Mit De Gasperi und Adenauer würdigt ihn die Kongregation als "Vater, Apostel des geeinten Europas, Pilger, Architekt und Wegbereiter der europäischen Einheit". Die Tugend des Glaubens prägte, so die Kongregation, sein ganzes Leben: "Die Entscheidung, sich politisch zu engagieren, wurde von ihm als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes betrachtet."

Keine Heiligsprechung von Parteiprogrammen

Kanonisierungen von Politikern sind auch deshalb selten, weil sie – wie die politisch-dynastisch motivierten Fürsten-Heiligsprechungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit – mit einer Legitimation der Politik der Geehrten verwechselt werden können. Der Bischof von Schumans Heimatbistum Metz, Jean-Christophe Lagleize, wandte sich daher im Interview mit der Zeitung "La Croix" auch gegen solche Kurzschlüsse: "Das ist nicht der Seligsprechungsprozess eines politischen Programms", betont der Bischof. "Bei der eventuellen Seligsprechung von Robert Schuman wird es nicht um seine Ideen gehen. Es wird die eines Getauften sein, der sein Leben in den Dienst des Gemeinwohls gestellt hat und der mit anderen wie Konrad Adenauer, Jean Monnet und Alcide De Gaspari einer der großen Akteure der deutsch-französischen Aussöhnung war. Er ist ein Mann, der seinen Glauben als Laie im Dienste seines Landes und des Friedens gelebt hat."

Porträtfoto von Robert Schuman
Bild: ©Archives Ciric/CIRIC/KNA (Archivbild)

Robert Schuman war französischer Außenminister und einer der Gründerfiguren der Europäischen Union. Für den Pionier der deutsch-französischen Aussöhnung ist ein Seligsprechungsverfahren anhängig. 2021 wurde ihm von Papst Franziskus als wichtiger Zwischenschritt der heroische Tugendgrad zuerkannt.

Doch auch aus einem anderen Grund sind Kanonisierungen von Politikern komplizierter als die von anderen Gläubigen. Zwar würden an sie dieselben Voraussetzungen wie an alle anderen potentiellen Seligen und Heiligen gestellt, betonte Kardinal Martins. Es sei eine besondere Herausforderung, wenn es sich um Politiker handle, deren Wirken Auswirkungen auf nationaler oder internationaler Ebene hatte: "In diesem Fall ist es notwendig, die Person in ihren historischen und sozialen Kontext einzuordnen, während in anderen Fällen – man denke zum Beispiel an eine Mutter einer Familie, die in der Alltäglichkeit eines begrenzten geographischen Umfeldes lebte – eine allgemeinere Beschreibung des Milieus ausreicht, in dem der Kandidat für die Heiligsprechung sein Leben verbrachte."

Schuman und De Gasperi haben die erste Hürde genommen. Die weitreichenden Umstände und Auswirkungen ihres Lebens wurden von der Kirche geprüft und für gut befunden. Bei Schuman bedauert sein Bischof jedoch, dass dieser momentan noch primär als Politiker gesehen werde – für die Seligsprechung braucht es aber noch ein Wunder auf seine Fürsprache hin. Daher wolle der Bischof daran arbeiten, dass Schuman auch als "Fürsprecher vor dem Herrn" gesehen wird: "Momentan gibt es in dieser Hinsicht noch ein gewisses Defizit." Um das zu beheben, wird in der Diözese in jedem Jahr am Todestag Schumans, dem 4. September, eine Messe mit Alten und Kranken gefeiert mit der Bitte um die Fürsprache Schumans.

Offiziell hilft das Parteibuch nicht

In Deutschland ist man zurückhaltender: Während sich die Heimatbistümer von Schuman und De Gasperi, Metz und Trient, um die Seligsprechung bemühen, ist im Erzbistum Köln kein Verfahren für Konrad Adenauer, den dritten im Bund der europäischen Gründerväter, geplant. Eine entsprechende Meldung der Zeitung "La Stampa" wurde 2002 schon kurz nach Erscheinen wieder dementiert. Dem Kölner Heiligenexperten Prälat Helmut Moll, der für die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) eine Sammlung der Märtyrer des 20. Jahrhunderts zusammenstellt, sind auch keine weiteren Verfahren für Politiker in Deutschland bekannt, und auf Adenauer angesprochen zeigt er sich sehr zurückhaltend. "Das Verfahren für Konrad Adenauer müsste auch von der CDU gestützt werden", ergänzt er.

Der Präsident des Parlamentarischen Rats, Konrad Adenauer, bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 in Bonn.
Bild: ©picture alliance/dpa (Archivbild)

Bundeskanzler Konrad Adenauer (hier als Präsident des Parlamentarischen Rats bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes) gehört zwar in die Reihe der katholischen EU-Gründerväter – ein Seligsprechungsverfahren hat aber noch niemand angestoßen.

Christdemokraten scheinen bisher die besten Karten für kanonisierte Parteimitglieder zu haben: Schuman, De Gasperi, Groß, Marvelli, Burjan, La Pira: Sie alle gehörten der christdemokratischen Partei ihres Landes an. Bald könnten ihre Reihen noch ergänzt werden um den ersten Bundeskanzler der Republik Österreich – jüngst nahm die Diözese St. Pölten das Verfahren für Leopold Figl auf –, und den Priester Luigi Sturzo, einem der Gründer des italienischen "Partito Popolare Italiano", aus dem später die "Democrazia Cristiana" hervorging. Also ein Monopol für Christdemokraten? Kardinal Martins, der ehemalige Heiligsprechungspräfekt, wiegelt ab: "Um Gottes Willen, Heiligkeit hat doch kein Parteibuch!" Aber zu schaden scheint das richtige Parteibuch auch nicht.

Von Felix Neumann