Der Fall Liminski: Wie der Glaube in der Politik die Debatten aufheizt
In seiner "Deutschen Geschichte 1866-1918" riet der Historiker Thomas Nipperdey noch 1990, die konfessionelle Spannung trotz der "Auswanderung aus den Konfessionen" weiter ernst zu nehmen als "eine entscheidende Wirklichkeit des deutschen Lebens, des Denkens, des Selbstverständnisses"; sie bleibe auch "eine entscheidende Wirklichkeit der Politik". Schnee von gestern? Wo doch inzwischen nur noch die Hälfte der Deutschen einer Kirche angehört, und noch weit weniger ihren Glauben "praktizieren"? Wo selbst in CDU und CSU Kirchlichkeit und konfessioneller Proporz kaum noch eine Rolle spielen?
Seit dem Wochenende sollte man sich da nicht mehr so sicher sein. Die SPD, bisher ohne größere Fehltritte durch den Wahlkampf gekommen und dank schwarzer und grüner Patzer in Umfragen auf steigendem Ast, hielt es bis zu ihrem Rückzieher – nach drei Tagen Protesten, auch der Bischofskonferenz – für opportun, per Video vor einem "erzkatholischen Laschet-Vertrauten" zu warnen, für den "Sex vor der Ehe ein Tabu ist". Der Leiter der NRW-Staatskanzlei Nathanael Liminski (35) hatte diese Haltung 2007 als 22-Jähriger in einer Talkshow bezeugt. Während Politiker der Union, aber auch der Grünen das beispiellose "negative campaigning" mit Konfession und persönlichem Glauben politischer Gegner kritisierten und Gerhard Schröders Regierungssprecher Bela Anda twitterte, Liminski sei "ein feiner und kluger Mensch. Wahlwerbung gegen ihn ist unfair und dumm", brach in den Social Media ein kulturkämpferischer Furor los: Es sei legitim, vor "homophoben" und "misogynen" religiösen "Fundamentalisten" in staatlichen Ämtern zu warnen und diese davon fernzuhalten, um einen "Rückfall ins Mittelalter" oder gleich "in die Steinzeit", zumindest aber eine "Rekatholisierung Deutschlands" zu verhindern. Wer religiösen "Fantasiewelten" und dem "Märchen" eines jenseitigen Lebens anhänge, sei unfähig, die irdische Wirklichkeit mit Elan und Verantwortungsgefühl zu bearbeiten. Armin Laschet sage ja auch "einfach dass es ihm egal ist was auf Erden passiert, denn das Paradies kommt ja eh". Keine Lüge war zu plump, um nicht ihre Likes zu finden.
Wenn nicht gar Menschenfeindlichkeit drohe! Denn Liminski sei auch gegen Abtreibung und habe im "Spiegel" sein "Mitleid" mit ihm bekannten Homosexuellen bekundet und vertreten: "Der Staat muss schon aus reiner Selbsterhaltung die natürliche Form der Ehe und Familie fördern." Man darf diese gnädig-herablassend wirkende Katechismus-Anleihe und den biologistischen Familismus taktlos und entwürdigend finden. Doch diese Aussage ist 14 Jahre her – und Abtreibung nach höchstrichterlicher Iudikatur grundsätzlich rechtswidrig, weil sie in die Menschenwürde auch des Embryos und sein Lebensrecht aus Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes eingreift und die Schutzpflicht des Staates auslöst.
Unterschlagen wurde: Über gleichgeschlechtliche Liebe äußerte sich Liminski längst wertschätzend. Der ZEIT sagte er am 8. April 2021: "Natürlich werden in homosexuellen wie in heterosexuellen Beziehungen Werte gelebt, die auch konservative Werte sind", und der Süddeutschen vom 22. April: "Für die soziale Stabilität einer Gesellschaft ist wichtig, dass Menschen in einer Partnerschaft verbindlich und verlässlich füreinander Verantwortung übernehmen – das gilt selbstverständlich unabhängig von ihrem Geschlecht." Bei einem Seminar der "Lesben und Schwulen in der Union" (LSU) just am letzten Wochenende wurde er noch deutlicher: "Ich habe ja bereits öffentlich gesagt, dass ich in den letzten 15 Jahren dazugelernt habe und manches so nicht mehr sagen würde". Aber selbst der getwitterte "Dank" der Veranstalter "für das gute Gespräch heute und Deinen Einsatz für #queere Projekte in NRW, lieber Nathanael" schien nur wenige Matadoren der Gegenpartei zu erreichen. Die einen, weil sie mit der Mobilisierungskraft des Themas im Wahlkampf kalkulieren und eine Selbstkorrektur ihnen da nicht ins Konzept passt; andere twitterten, dass "der Wolf nur Kreide gefressen" habe und "der Mensch sich nicht ändert". Ein linkes Pendant zu jenen Rechten, die Joschka Fischer immer noch lustvoll als "Steinewerfer von Frankfurt" und Angela Merkel als "FDJ-Sekretärin" präsentieren. Hass und Machtinteresse finden immer einen Weg, missliebige Personen festzulegen auf den Teil oder jene Episode ihrer Biographie, mit der am leichtesten Stimmung gegen sie zu machen ist.
Fantasie, Ignoranz und Copy-and-Paste
Wo das "Sündenregister" des Skandalisierten nicht reicht, müssen zur Not eigene Fantasie, Ignoranz oder Copy-and-Paste bei Gleichgesinnten helfen, um weiter zu skandalisieren. Auf die Twitterantwort: "Sie meinen also zwischen dem 22. und 36. Lebensjahr könne man seine Meinungen und Ausdrucksweise nicht ändern?", blaffte ein Liminski-Kurzzeitexperte zurück: "Liminski offensichtlich nicht", denn der habe ja auch eine Laudatio auf die Rechte Ellen Kositza gehalten, mehrfach bei der AfD gesprochen und in der "Jungen Freiheit" geschrieben. Im Übrigen sei er bekanntlich im Opus Dei. Hierbei verwechselte er Laschets Vertrauten freilich mit dessen Vater Jürgen Liminski, der jüngst verstarb. Aber selbst manche, die Vater und Sohn zu unterscheiden wissen, referieren so inbrünstig publizistische Einlassungen des Ersteren als gäbe es eine ideologische Sippenhaft. Seit der Basisdemokratisierung politischer Meinungsbildung in der Netzkommunikation erscheint eine sarkastische Definition aktueller denn je: "Öffentliche Meinung ist das Geräusch, das entsteht, wenn die Leute mit ihren Brettern vorm Kopf durcheinander rennen". Gerade zur immer ferneren Realwelt Katholizismus produzieren Social Media Meinungsführer nach dem Motto: "Unter den Blinden ist der Einäugige König."
Linktipp: Nathanael Liminski: Von der "Generation Benedikt" zu Armin Laschet
Wer sich für das Team hinter Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet interessiert, kommt an einem Namen nicht vorbei: Nathanael Liminski. Jetzt ist der Chef der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei wegen seines katholischen Glaubens in den Fokus des Bundestagswahlkampfs gerückt. Ein Porträt.
Mit alldem sollen sachliche Anfragen an den Kanzleichef und Medienstaatssekretär des Unions-Kanzlerkandiaten nicht abgewiegelt werden: Aus jüngster Zeit erregen zwei Vorgänge Argwohn: Wieso ist kürzlich der "Verband kinderreicher Familien Deutschland" (KRFD), der schon Eltern ab drei Kindern offen steht, aber bundesweit nur auf rund 5.000 Mitglieder kommt, in den WDR-Rundfunkrat gewählt worden? Reichte es nicht, überhaupt Familien dort repräsentiert zu wissen? Ist es Zufall, dass ein Berater des Vereins dem Opus Dei angehört, Homosexualität "lebensfeindlich" nannte, 2017 aus der CDU austrat und bei der AfD auftrat? Und was motivierte Liminskis Mitarbeit (bis 2020) im Stiftungsrat der "Stiftung Familienwerte", die auch als Bündnispartner der "Demo für Alle" hervortrat – für Kritiker "ein Konglomerat aus reaktionären und fundamentalen Christen, Rechtsaußen, Rechtsextremen" (Marianna Henning)? Das sind durchaus relevante politische Fragen, die nicht einfach unter Berufung auf die Religionsfreiheit zurückzuweisen sind.
Auch liberale Katholiken hielten dagegen
Andererseits: Darf man Liminski wirklich sämtliche Aktionen und Äußerungen des Vereins als persönliche Überzeugungen zurechnen? Sollte in staatlichen Ämtern nur noch derjenige tragbar sein, der die "Ehe für Alle" begrüßte? Wurde der KRFD nicht auch mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP in den WDR-Rundfunkrat gewählt? Und täte es unserem polarisierten Land nicht gut, wenn sich mehr Menschen öfter solche kontroversen Fragen stellten als sich in Gewissheiten zu bestätigen und gegen andere hochzujazzen?
Im Schlagabtausch um Nathanael Liminski fiel auf, dass nicht nur "stramm" Konservative und schon gar nicht nur Rechtskatholiken dagegen hielten, sondern auch Vertreter eines eher liberalen Katholizismus. Viele Gläubige, denen Sex vor der Ehe keine Gewissenssorgen bereitet, hätten es doch gern, wenn auch die Gewissensentscheidung von Christen strengerer Observanz nicht dazu führt, dass sie auf politischer Bühne durch den Kakao gezogen und als geradezu gemeingefährlich abgestempelt werden. Auch der Angriff auf die Glaubensüberzeugung eines innerkirchlichen Widersachers kann Solidarisierung auslösen, die dem Angreifer auf die Füße fällt. Der Bonner Juraprofessor Gregor Thüsing kritisierte, mit "Kulturkampfrhetorik" verabschiedeten sich die Sozialdemokraten von ihrem Anspruch, Volkspartei zu sein. Er frage sich, was einen "Erzkatholiken" von "Katholiken" unterscheiden solle "und ob die SPD nicht am liebsten auf die Stimmen beider verzichten will".
Man ahnt: Wird heute der konservative Katholik als politikunwürdig ausgegrenzt, kann es morgen schon den liberaleren treffen. Ein Jurist und Manager erhielt beträchtliche positive Resonanz für die Aussage: "Diskutieren wir gerade wirklich darüber, ob es okay ist, dass sich der katholische Extremismus in die Politik dieses Landes einmischt? Die katholische Kirche ist doch schon in ihren liberalsten Ausprägungen höchstproblematisch. Wenn heute jemand einen Verein gründen würde, wo nur ein Mann den Vorsitz haben darf, der nicht vom Verein sondern nur vom Vorstand gewählt wird, der dann aber auch den Vorstand benennen darf, wäre dieser Verein genau eines: Verfassungswidrig." Da wird man hellhörig! Es gibt eben nicht nur religiös motivierte Intoleranz, sondern auch antireligiös motivierte. Laut dem Bertelsmann-Religionsmonitor 2013, der die Wahrnehmung von Weltreligionen und Weltanschauungen als "Bereicherung" oder "Bedrohung" eruierte, nahmen das Christentum nur 9 Prozent im Westen und 15 Prozent im Osten Deutschlands als bedrohlich wahr, den Atheismus aber 36 Prozent im Westen und 16 Prozent im Osten.
Kein "Gottesstaat" mit Laschet und Liminski
Die Arroganz, mit der selbsternannte "Aufgeklärte" meist linker Provenienz auf Religionen – mehr auf Christen als auf Muslime und Juden – herabblicken und sie als Gefahr für Freiheit und Toleranz verschreien, wird man nicht nur in Kenntnis des 20. Jahrhunderts zurückweisen dürfen, sondern auch im Blick auf aktuelles Scheitern an Voltaires Devise: "Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen." Und bei dem, was nicht geht, kehrte am besten jeder vor der eigenen religiös-weltanschaulichen Tür. Für Christen gibt es dazu Anlass genug, beispielsweise im Blick auf christliches Wahlverhalten in den USA, Brasilien oder Polen, aber auch auf kirchliche Subkulturen Deutschlands, die nicht von ungefähr faschistoide Rechtspopulisten als Abendlandverteidiger willkommen heißen. Hier darf man sich auch Hinweisen säkularer Kirchenkritiker nicht verschließen und sollte sich hüten, in Wagenburgmentalität die Reihen zu schließen.
Was aber unseren entschiedenen Widerspruch verdient: Wenn der Glaube ins rein Private abgedrängt werden soll oder wenn christlich-ethische Überzeugungen, und seien sie inzwischen gesellschaftlich minoritär, als untragbar für öffentliche Ämter skandalisiert werden. Ein katholischer "Gottesstaat" Deutschland würde mit Armin Laschet und Nathanael Liminski im Kanzleramt nicht über uns kommen. Jeder, der das insinuiert, hat entweder den Kontakt zur Realität verloren oder treibt mit grotesken Überzeichnungen ein perfides Spiel im Wahlkampf.