Wieso die "Rückhol-Aktion" durch Papst Franziskus gescheitert ist

Nach Nazi-Vergleich: Kardinal Müller hat sich disqualifiziert

Veröffentlicht am 11.08.2021 um 15:00 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Kardinal Gerhard Ludwig Müller bekleidete einst eine der wichtigsten Positionen im Vatikan. Nach seiner Entlassung als Präfekt der Glaubenskongregation ging er in Opposition zum Papst und unterstützte Verschwörungstheorien. Doch jetzt hat er endgültig eine Linie überschritten. Eine Analyse.

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Die Überraschung war groß, als Papst Franziskus die Amtszeit von Kardinal Gerhard Ludwig Müller als Präfekt der Glaubenskongregation im Sommer 2017 nicht verlängerte. Schluss, nach gerade einmal fünf Jahren. Im Alter von 69 Jahren war der große Theologe aus dem kleinen Finthen damals zudem für vatikanische Verhältnisse im besten Alter. Die päpstliche Entscheidung kam also mindestens einem Vertrauensentzug, in manchen Augen auch einer Demütigung gleich. Eine zweite, wenn nicht sogar eine dritte Amtszeit wären möglich gewesen.

Vier Jahre ist das nun her. Schon vor seiner Abberufung hatte Müller keinen Hehl daraus gemacht, dass er mit dem Kurs des amtierenden Papstes nicht zufrieden war. Immer wieder betonte er die Fähigkeiten von dessen Vorgänger Benedikt XVI., um sie in Kontrast zum vermeintlich begrenzten theologischen Horizont von Franziskus zu stellen. Zwar vermied er einen allzu offensichtlichen Widerspruch zu päpstlichen Entscheidungen – anders als etwa Kardinal Robert Sarah, der Präfekt der Gottesdienstkongregation –, doch war klar: Auf der einen Seite stand der auch körperlich große Theologe und Kardinal Müller, der die Kirche, ihre Lehre und die Sakramente mit allem verteidigt, was er hat; auf der anderen Papst Franziskus, der zuallererst den Menschen in den Blick nimmt und dafür beim Katechismus auch einmal ein Auge zudrückt oder Seelsorge durch Fußnoten betreibt.

Der "Betrug des Antichrists"

Auf Dauer konnte das nicht gut gehen. Was jedoch niemand ahnen konnte: Dass es mit der Entscheidung des Papstes so viel schlimmer werden würde. Vertrat er als Präfekt lediglich die Lehre der Kirche, wenn auch gelegentlich mit rabiater Wortwahl, begab sich Müller nun in eine offene Opposition zum Papst. So schlug er sich etwa nur wenige Monate nach seiner Entlassung auf die Seite der Gegner von "Amoris laetitia", in dem er die Formulierungen des päpstlichen Schreibens mit Blick auf wiederverheiratete Geschiedene als theologisch ungenügend abqualifizierte.

Mehrfach kritisierte Müller anschließend auch die Amtsführung des Papstes und veröffentlichte schließlich als (zumindest innerkirchlichen) Höhepunkt sein eigenes "Glaubensmanifest". Als Anlass dafür nannte Müller eine "sich ausbreitende Verwirrung in der Lehre des Glaubens". Weil er am Ende seines Textes dann noch vom "Betrug des Antichrists" schrieb, meldete sich auch der zuletzt um Diplomatie bemühte Kardinal Walter Kasper mit einem unguten Gefühl zu Wort. Er fühle sich an Luthers Kritik am Papst erinnert, wolle aber nicht glauben, dass hinter dem Manifest jemand stehe, "der sich zu Recht für Reformen in der Kirche einsetzt, diese aber am Papst vorbei und gegen ihn durchsetzen will".

Erzbischof Carlo Maria Viganò
Bild: ©picture alliance/AP Photo/Patrick Semansky

Seine Unterschrift unter dem Corona-Manifest von Erzbischof Carlo Maria Viganò brachte Kardinal Müller Kritik aber auch Lob aus der "rechtsesoterischen Szene" ein, die in ihm einen Gewährsmann erkannten.

Man könnte es als theologisches und innerkirchliches Geplänkel abtun, von dem die Welt außerhalb dicker Kirchenmauern sowieso nichts (mehr) mitbekommt. Doch meldete sich Kardinal Müller in der jüngsten Vergangenheit auch im gesellschaftlichen Diskurs auf teils verstörende Weise zu Wort. Mit Blick auf mögliche Gottesdienstverbote im Mai vergangenen Jahres sprach er davon, dass die Kirche "keine dem Staat untergeordnete Behörde" sei. Angesichts der damals schon zahlreich zu beklagenden Corona-Toten verkehrte er die reale Situation ins Gegenteil, indem er beinahe zynisch auf eine "Perspektive des ewigen Lebens" verwies, die die Kirche nun bieten müsse, statt Gotteshäuser zu schließen.

Etwa zeitgleich unterschrieb Müller das Corona-Manifest des ehemaligen US-Nuntius und Erzbischofs Carlo Maria Viganò, das vor Verschwörungserzählungen nur so strotzt. Es gebe "Kräfte, die daran interessiert sind, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen", heißt es darin. Von einer "supranationalen Einheiten" mit unklaren Absichten und "sehr starken politischen und wirtschaftlichen Interessen" ist die Rede; und schließlich von einer "Politik der drastischen Bevölkerungsreduzierung" und einem "beunruhigenden Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung". Obwohl sogar Kardinal Sarah seine Unterschrift unter dem Pamphlet bald zurückzog, blieb Müller Unterstützer: Interessierte kirchliche Kreise hätten das Papier benutzt, "um daraus Empörungskapital gegen ihre vermeintlichen Gegner zu schlagen", sagte er.

Zu diesen Gegnern gehörte etwa der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer, der deutliche Kritik übte: "Ich habe den Original-Text gelesen und bin einfach nur fassungslos, was da im Namen von Kirche und Christentum verbreitet wird: Krude Verschwörungstheorien ohne Fakten und Belege, verbunden mit einer rechtspopulistischen Kampf-Rhetorik, die beängstigend klingt." Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, distanzierte sich. Kardinal Müller nahm die Kritik jedoch gelassen und verwies darauf, dass Unterstützer des Manifests bewusst missverstanden würden. Und er selbst stehe natürlich zu Unrecht in der Kritik.

"Rechtsesoterische Szene" feiert Müller als Gewährsmann

Es gab selbstverständlich aber auch Applaus für Müller. Denn traditionalistische katholische und evangelikale Milieus seien besonders offen für Verschwörungserklärungen zur Corona-Krise, sagte der Weltanschauungs-Experte Matthias Pöhlmann. Müllers Unterschrift sei daher in der "rechtsesoterischen Szene begeistert aufgenommen" worden. Man habe den Kardinal als Gewährsmann für die eigenen Vorstellungen gefeiert, da endlich mal einer es ausspreche.

Der emeritierte Würzburger Pastoraltheologe Erich Garhammer sprach dagegen davon, dass Müller "die Demarkationslinie der Vernunft überschritten" und der Kirche mit seiner Unterschrift "immensen Schaden" zugefügt habe. Denn der von ihm unterzeichnete Text würde "in Teilen der Öffentlichkeit als offizielle Stellungnahme der Kirche" wahrgenommen. Weil Papst Franziskus zwar die Einschränkungen für das gottesdienstliche Leben bedauerte, jedoch stets auf eine Einhaltung der staatlichen Vorschriften gepocht habe, sah Garhammer Müller damals in "mehr oder weniger offener Gegnerschaft" zum Papst.

Kardinal Gerhard Ludwig Müller spricht mit Papst Franziskus
Bild: ©KNA/Paul Haring/CNS photo

Trotz der mitunter offenen Kritik Müllers an seiner Amtsführung, ernannte Papst Franziskus den Kardinal im Juni zum Richter am Obersten Gericht der Apostolischen Signatur.

Umso verwunderlicher war es, als Papst Franziskus Müller knapp ein Jahr später, in diesem Juni, mit einer neuen Aufgabe betreute: einem Richterposten am Obersten Gerichtshof der Apostolischen Signatur. Vielleicht hatte Papst Franziskus wieder einen Blick für den Menschen und wollte Müller mit einer würdevollen Aufgabe betrauen, die diesen rehabilitiert. Vielleicht hat er auch gedacht, Müllers Querschüsse ins Innere der Kirche hinein wie auch in die Gesellschaft hinaus durch eine solche Maßnahme unterbinden zu können.

Er sollte sich irren. Nicht nur, dass der Kardinal wenige Tage nach seiner Ernennung das theologische Niveau der Kurie mit einem Streich abqualifiziert hat, in dem er behauptete, dort hätten Leute das Sagen, "die mehr von Kommunikation und Außendarstellung etwas verstehen, als dass sie in der Theologie zu Hause sind". Jetzt hat sich Müller auch in die Debatte um den Strafbefehl gegen den polnischen Priester und Publizisten Dariusz Oko eingeschaltet. Der hatte in einem Aufsatz der Zeitschrift "Theologisches" homosexuelle Geistliche unter anderem als "eine Kolonie von Parasiten", "Krebsgeschwür" und "homosexuelle Plage" bezeichnet.

Ein schiefer NS-Vergleich

Müller knüpft dabei sprachlich fast nahtlos an das Manifest Viganòs an. Er schäme sich, dass Oko in Deutschland wegen Aufstachelung zum Hass verurteilt worden sei, obwohl er Fakten genannt habe. Zugleich zog er eine Parallele zur Zeit des Nationalsozialismus. Dass Oko verurteilt worden sei, müsse bei historisch gebildeten Menschen alle Alarmglocken schrillen lassen, so Müller. Schließlich habe "ein gewisser Anwalt" als Generalgouverneur einst die gesamte Krakauer Professorenschaft in das Konzentrationslager geschickt.

Müller bezog sich mit dieser Aussage offensichtlich auf den Juristen und NS-Politiker Hans Frank, der ab Ende Oktober 1939 als Generalgouverneur im von Deutschland besetzten Polen eine Schreckensherrschaft aufgebaut hatte und als "Schlächter von Polen" in die Geschichte eingegangen ist. Dass Oko sich mit seiner Position aber viel eher auf die Seiten der Nationalsozialisten stellt als die deutsche Justiz, indem er Homosexuelle derart entmenschlicht und herabwürdigt, dass Hass und Gewalt gegen sie vermeintlich legitimiert werden, sieht Müller nicht. Es ist nicht der erste Nazi-Vergleich Müllers. So hatte er etwa Anfang vergangenen Jahres die Entscheidungsfindung beim Synodalen Weg mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 verglichen.

Unwahrscheinlich, dass der – zumindest in Personalfragen – diplomatisch und taktisch agierende Papst Franziskus die jüngsten Äußerungen zum Anlass nimmt, Müller nun nicht erst nach fünf Jahren, sondern vorzeitig von seinem Amt zu entbinden. Verständlich wäre es aber, da sich der Kardinal mit seinen jüngsten Aussagen nicht nur ein für alle Male disqualifiziert, sondern der Kirche nach innen wie außen enormen Schaden zugefügt hat.

Von Björn Odendahl

Zur Person

Björn Odendahl ist Redaktionsleiter bei katholisch.de.