Ein Streifzug durch eine jahrhundertealte Tradition

Religiöse Lyrik: Von den Psalmen zum Fremden am Holzkreuz

Veröffentlicht am 21.08.2021 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Religiöse Themen haben die Literatur immer beschäftigt – vor allem die Lyrik. In vielen Jahrhunderten hat sich der Blick auf Gott gewandelt, aus der Kirche sehr nahen Texten entwickelten sich Werke mit ganz unterschiedlichem Fokus. Doch die Spuren des Anfangs lassen sich bis heute entdecken.

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"Ich bin erschöpft vom Seufzen,
jede Nacht benetze ich weinend mein Bett,
ich überschwemme mein Lager mit Tränen.
Mein Auge ist getrübt vor Kummer,
ist matt geworden wegen all meiner Gegner.
All ihr Übeltäter, weicht zurück von mir,
denn der HERR hat mein lautes Weinen gehört!" (Ps 6,7f.)

Erschöpfung, Traurigkeit, Kraftlosigkeit, Einsamkeit – und dann die Wendung an Gott, die neue Kraft gibt. In den Psalmen des Alten Testaments steckt eine tiefe lyrische Kraft, diese Lieder erzählen vom religiösen Erleben Einzelner in Versen. Bereits in der Bibel stehen also Gedichte – und sie bilden den Anfang für eine Tradition, die bis in die Gegenwart reicht.

Religiöse Lieder zählen zu den ältesten Zeugnissen der europäischen Literaturgeschichte. Vom ersten namentlich bekannten Dichter englischer Zunge, Cædmon, haben bis heute nur ein paar Zeilen eines Schöpfungshymnus überlebt ("Nun lasst uns den Bewahrer des himmlischen Königreiches preisen / die Macht des Schöpfers und seine Gedanken"), ein Lied über das Martyrium der heiligen Eulalia (die sogenannte Eulalia-Sequenz) ist der älteste überlieferte französische Text und das Petruslied ist das älteste seiner Art in deutscher Sprache. Hier der Beginn des auf Althochdeutsch von unbekannter Hand Ende des 9. Jahrhunderts verfassten Textes:

"Unser Herr hat übertragen
St. Peter die Gewalt,
dass er retten kann
den auf ihn hoffenden Mann."

Diese Verse entstehen nicht im luftleeren Raum, ganz im Gegenteil. In der Regel haben die Lieder irgendwo im religiösen Geschehen ihren festen Platz. Es gibt die liturgischen Lieder, zu denen auch die Eulalia-Sequenz gehört, die im Gottesdienst zu bestimmten Gelegenheiten gesungen werden. Hymnus und Sequenz sind die ersten Formen von Liedern, in denen der Glaube im Gottesdienst frei getextet ausgedrückt wird. Einer der frühesten Plätze dafür ist vor und nach der Predigt. Manchmal stimmt der Priester zum Ende der Predigt einen Hymnus an, den die Gemeinde danach singt.

Bild: ©picture alliance/AKG

Besonders am Anfang kamen zahlreiche Texte aus einem monastischen Umfeld.

Daneben gibt es aber auch einfache Lieder, die um den Gottesdienst herum oder zu Hause für die persönliche Andacht gesunden werden, wie das Petruslied. Es wurde etwa bei Wallfahrten gesungen. Die so entstandenen Lieder in den europäischen Volkssprachen greifen dabei oft auf lateinische Quellen und biblische Bilder zurück. Das ist wenig verwunderlich, denn die Autorinnen und Autoren stammen oft aus Klöstern, beten jeden Tag die liturgischen Tagzeiten, die Psalmen enthalten und nehmen an der damals ausschließlich auf Latein geführten innerkirchlichen Korrespondenz teil. Das schlägt sich in den von ihnen geschriebenen Texten nieder.

Der Fokus weitet sich

Im Laufe des Mittelalters weitet sich der Fokus der Texte. Die Gesänge sind zwar immer noch eng mit der Kirche verbunden, aber nicht mehr ausschließlich für Frömmigkeitsübungen gedacht. Minnesänger verleihen ihren im Lied angebeteten Frauen Attribute der Jungfrau Maria, wodurch sie eine Verbindung religiöser und Liebeslyrik schaffen. Auch in der literarischen Großform der damaligen Zeit, dem "Leich", bleiben christliche Themen prägend – wie hier beim bekannten Ritter und Poeten Walther von der Vogelweide (1170-1230).

"Du völlig unbefleckte Jungfrau,
der Wolle Gedeons
gleichst du vollkommen,
die Gott selbst mit seinem Tau begossen hat.
Ein Wort von allen Worten,
öffnete die Tore deiner Ohren,
das Süßeste, von allen Orten,
hat dich versüßt, süße Himmelherrin."

Walther nutzt für seine religiösen Dichtungen die gleichen Versmaße und Strophenformen wie in seinen weltlichen Liedern auch – er wird nicht der letzte bleiben, der so arbeitet. Das macht die religiöse Lyrik zu einem der vielfältigsten Bereiche der Literatur. Denn eine eigene Form hat sie nicht, ihre Themen und Motive durchdringen alle Ausdrucksmöglichkeiten der Literatur.

Eine Bibel ist mit Sand bedeckt, sodass nur der Bibel-Schriftzug zu sehen ist
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Ein heute etwas unbekannterer Teil der Literaturgeschichte: Die Versifizierung der Bibel.

Neben Gedichten, die auch heutige Leser noch als klassische Vertreter ihrer Gattung begreifen würden, bildet sich auch eine weitere Form heraus: Die Versifizierung der Bibel. Autoren wie Hans Sachs und andere lutherische Meistersinger schreiben ganze Abschnitte der Lutherbibel in Verserzählungen um. Diese werden dann zu bestehenden Melodien vorgesungen. In einer Zeit, in der Lese- und Schreibfähigkeit noch die Ausnahme sind, ebnet das breiteren Bevölkerungsschichten einen Zugang zur Bibel und lässt diese leichter im Gedächtnis bleiben.

Mehr volkssprachliche Lieder

Wo der Name Luther schon angeklungen ist: Die Tendenz zu mehr volkssprachlichen Liedern sowohl im Gottesdienst wie auch zur persönlichen Andacht entsteht zwar schon vorher, die Reformation befeuert diese Bewegung aber ganz entscheidend. Denn Lieder, die entweder zu Hause oder vor sowie nach dem Gottesdienst gesungen werden, machen das religiöse Geschehen für die Allgemeinheit greifbarer und geben dem Glaubensempfinden der Menschen ein Sprachrohr. Das kann in ausgesprochener Form sein, doch auch im innerlichen "stillen Singen", dem "cantare subsilentio", also der ganz individuellen Andacht haben diese Lieder ihren Platz. Ein bis heute bekanntes, sehr eindrückliches Beispiel:

"Es kommt ein Schiff, geladen
bis an sein' höchsten Bord,
trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
des Vaters ewigs Wort.

Das Schiff geht still im Triebe,
es trägt ein teure Last;
das Segel ist die Liebe,
der Heilig Geist der Mast."

Der Text aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts wird immer wieder dem Straßburger Mystiker Johannes Tauler (1300-1361) zugeschrieben, auch wenn dessen Autorenschaft umstritten ist. Zumindest geht das Lied auf Predigten von ihm zurück. Das Schiff als Sinnbild mit symbolischen Funktionen all seiner Teile ist seit langem ein Klassiker der religiösen Dichtung und wurde über die Jahrhunderte immer wieder aufgegriffen. Es weist bereits auf die Barockdichtung hin, in der Motive wie das Schiff für den von Höhen und Tiefen bestimmten Glaubensweg sowohl des einzelnen Christen wie auch der Gemeinschaft immer wieder herangezogen wird. ("Mein oft bestürmtes Schiff, der grimmen Winde Spiel, / Der frechen Wellen Ball, das schier die Flut getrennet", textet etwa Andreas Gryphius 1637.)

Glaube verändert sich

Der Glaube begleitet die Literatur und ihre Autorinnen und Autoren, doch wie sich die Welt ändert, ändert sich auch die Art und Weise, wie Religion in den Texten vorkommt: Sind die frühen Lieder noch sehr eng an das liturgische Geschehen und die Kirche angelehnt, löst sich das Verhältnis mit der Zeit, der Glaube wird individueller. Religiöse Lyrik wird für die Schreibenden mehr und mehr zu einem Medium für ganz grundsätzliche Überlegungen zur eigenen Identität, Leben und Sterben.

"Mit dem Fleische ist die Sünde
Aus der Erde aufgegangen;
In der Mutter muss ich wühlen,
Bis der Vater sich erbarmet!"

So heißt es etwa in den "Romanzen vom Rosenkranz" von Clemens Brentano (1778-1842). Nicht mehr (nur) das Lob oder die Bitte an Gott steht im Vordergrund, sondern die Abgründigkeit des menschlichen Lebens und der Welt an sich ist Thema. Das ist typisch für die Romantik: Lyriker suchen das Göttliche, aber spätestens mit der Französischen Revolution sind die Bande zur Kirche nicht mehr so stark, sie beschreiten andere, freiere Wege. Das religiöse Erleben des Einzelnen ist wichtiger als die Selbstversicherung einer größeren Gemeinschaft. Eine Denkwelt, die in der individuellen Erlösung des Christentums sowie den Schriften der Mystiker durchaus Vorbilder hat.

Eine Buddha-Statue aus Holz.
Bild: ©Sianstock/Fotolia.com

Hermann Hesse ist vor allem vom Buddhismus fasziniert.

Nach der Romantik wird die religiöse Dichtung mehr und mehr an den Rand gespült. Rainer Maria Rilke (1875-1926) und Hermann Hesse (1877-1962) etwa schreiben noch explizit christliche Texte – Rilke etwa dichtet "Vom Tode Mariae":

"Sie aber legte sich in ihre Schwäche
und zog die Himmel an Jerusalem
so nah heran, dass ihre Seele nur,
austretend, sich ein wenig strecken musste:
schon hob er sie, der alles von ihr wusste,
hinein in ihre göttliche Natur."

Maria ist hier allerdings mehr eine Frau, die das göttliche Geheimnis am eigenen Leib erfährt, als dass sie wie in vorangegangenen Jahrhunderten ein Teil dessen ist. Sie ist menschlicher, empfindender – Rilke lässt sie erst ihre Schwäche erkennen, bevor sie von Gott aufgenommen wird.

Andere Religionen

Hesse geht einen Schritt weiter und widmet sich bald anderen Religionen, der Buddhismus nimmt in seinem Schreiben eine ganz entscheidende Rolle ein (das sicher eindrücklichste Beispiel ist die Erzählung "Siddhartha" von 1922 über die Lebensgeschichte des Buddha). Spiritualität statt Religion steht nun im Fokus.

Diese Emanzipation von verfasster Religion prägt die Gesellschaft bis heute – und damit auch die Texte, die entstehen. Wo es heute bewusst um das Christentum geht, handelt es sich entweder um literarische Nischen, die von Kritik und Publikum kaum wahrgenommen werden, oder das Religiöse wird in irgendeiner Form gebrochen, wie bei der Lyrikerin Nora Gomringer, die ihre Eindrücke in der Messe beschreibt:

"Jesus, ein Fremder an einem Holzkreuz,
hat einen schlimmen Schnitt in der Seite
Seit tausenden Jahren verbindet den keiner
Das ist schon fahrlässig."

Solche Facetten sind heute eine Seltenheit, die Kirche hat derart an Vertrauen, Rückhalt und Interesse in der Gesellschaft verloren, dass auch die Literatur sich nur noch wenig dazu äußert. Dezidiert christliche Gedichte werden in der Literaturlandschaft oft nicht mehr für voll genommen und bewegen sich mittlerweile weniger im Bereich der Literatur als eher in der Ecke der Erbauungsbücher. Das muss nicht das Ende dieser Lyrik-Spielart sein. Themen kommen und gehen – wie die Romantik die Religion unter veränderten Vorzeichen neu entdeckt hat, kann das wieder passieren.

Von Christoph Paul Hartmann