Forscher: Qumran könnte Pilgerstätte statt Kloster gewesen sein
Eine Studie des israelischen Archäologen und Philologen Daniel Vainstub schlägt eine Neuinterpretation der Funktion der antiken Stätte Qumran am Toten Meer sowie seiner Bewohner vor. Statt wie bisher von vielen Forschern angenommen könnte Qumran nicht eine Art Kloster der jüdischen Essener-Sekte gewesen sein, sondern womöglich ein Versammlungsort der Essener für ihre jährliche Wallfahrt, berichtet die Zeitung "Haaretz" (Freitag). Die Studie wurde kürzlich in der interdisziplinären Zeitschrift "Religions" veröffentlicht.
In Qumran wurden Überreste einer zentralen Speisekammer, große Ritualbäder, ein Friedhof und ein Refektorium gefunden, jedoch keine Hinweise auf Wohnhäuser, wie sie für eine dauerhafte Siedlung zu erwarten wären. Dass die Bewohner der Stätte entweder in den nahegelegenen Höhlen oder in temporären Bauten wie Zelten oder Hütten lebten, wie von Forschern vorgeschlagen, stünde in einem gewissen Widerspruch zum hoch qualitativen Ausbau der öffentlichen Infrastruktur.
Vainstub schlägt nun vor, dass es sich bei Qumran um jenen Ort handeln könnte, an dem sich die Essener zu ihrem jährlichen religiösen Treffen versammelten. Hinweise auf eine solche Zeremonie zum Wochenfest (Schawuot) finden sich in der sogenannten Damaskusschrift sowie der "Gemeinderegel", zwei in Qumran gefundenen Handschriften zu Leben, Regeln und Bräuchen der Gemeinschaft. Da die Essener laut Bericht weder den Tempel und seine Priesterschaft noch den hebräischen Kalender anerkannten, vollzogen sie ihre Wallfahrt demnach statt nach Jerusalem in die Wüste.
Die groß angelegte Infrastruktur in Qumran deutet laut Vainlaub auf die Versammlung von Tausenden Pilgern. Eine Schlüsselfunktion weist er dabei einem großen Platz im Süden der Anlage als Versammlungsort zu. Auch die Speisekammer sowie dort gefundene große Mengen von Keramiken sprächen für seine Theorie. Etwa sei das in der Speisekammerwand gefundene niedrige Fenster untypisch für die römische Architektur der Zeit und könnte als Fenster für die Essensausgabe an Pilger gedient haben.
Die Wallfahrtstheorie erklärte laut dem Forscher zudem das ungewöhnliche System ritueller Bäder, darunter zwei sehr große Becken, acht kleinere sowie zwei Zisternen. Die Größe der Anlage spreche eher für den Bedarf von Hunderten Pilgern als für eine kleine, vor Ort lebende Gemeinde. Laut Vainstub dürfte eine kleine Anzahl von Menschen dauerhaft an der Stätte gelebt und für deren Unterhalt gesorgt haben, während die Pilger aus verschiedenen Orten des Landes kamen und für die Dauer ihres Aufenthalts in der Umgegend kampierte. Wohnbebauung sei daher nicht notwendig gewesen.
Leiter der Zeremonie mussten mehrere Sprachen sprechen
Bestätigt sieht sich der Forscher durch eine weitere Vorschrift in der "Damaskusschrift". Diese schreibt vor, dass der Leiter der jährlichen Zeremonie mehrere Sprachen beherrschen müsse – ein Hinweis darauf, dass die Teilnehmer aus den verschiedenen Landesteilen kamen, in denen zu der Zeit Hebräisch, Aramäisch und Griechisch gesprochen wurden.
Bekannt ist die archäologische Stätte Qumran durch die dort gefunden Schriften. Die Qumran-Rollen sind eine Sammlung hebräischer und aramäischer Schriften, die 1947 von zwei Ziegenhirten in Höhlen entdeckt wurden. Sie entstanden zwischen 250 vor und 40 nach Christus und enthalten die ältesten bekannten Aufzeichnungen der Texte des Alten Testaments. Sie zählen zu den wichtigsten archäologischen Funden des 20. Jahrhunderts und enthalten 2.000 Jahre alte jüdische Texte, darunter auch Abschriften aus der Bibel. (cbr/KNA)