Priester und Trauma-Experte: Kirche in ständigem Verdrängungsprozess
Obwohl sich in der Kirche seit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals vor mehr als zehn Jahren viel im Umgang mit dem Thema verbessert hat, gibt es in der Seelsorge bislang nur wenige Spezialisten für Traumatherapie. Dekan Michael Pflaum wollte das nicht hinnehmen und hat ein Buch zum Thema geschrieben. Der Experte erklärt im Gespräch, weshalb er glaubt, dass sich die Kirche ihren Traumata nicht stellt.
Frage: Herr Pflaum, wie kann man sich als Laie vorstellen, was ein Trauma ist?
Pflaum: Es gibt eine Alltagssituation, an der man das ganz gut beschreiben kann: Wenn ein Vogel gegen eine Glasscheibe fliegt, fällt er erst einmal zu Boden und erstarrt. Nach einiger Zeit kann man beobachten, dass er bestimmte Ausschüttel-Bewegungen macht, bevor er wieder losfliegt.
Eine ähnliche Reaktion beschreibt die Polyvagal-Theorie, auf die ich mich unter anderem in meinem Buch beziehe, auch für Traumatisierte. Es werden drei Lebensmodi unterschieden: Da haben wir ein ganz normales soziales Zugewandtsein, dann den Modus "Kampf und Flucht", mit dem das Nervensystem auf Alarm schaltet, und als drittes die Erstarrung. Wie der Vogel kommen wir aus diesem Zustand der Erstarrung nur heraus, wenn wir vorher durch Kampf und Flucht-Aktionen gehen.
Frage: Anders als der Vogel können wir Menschen ein Trauma aber nicht einfach so abschütteln. Woran liegt das?
Pflaum: Was ich bisher beschrieben habe, war die rein körperliche Seite des Traumas. Das Problem ist, dass uns die natürlichen Kampf-und-Flucht-Handlungen oft durch gesellschaftliche Konventionen abtrainiert wurden: Weinen, Verzweifeltsein und ähnliche Reaktionen versuchen wir meistens vor der Öffentlichkeit zu unterbinden. Weil aber – bildlich gesprochen – dieses Abschütteln fehlt, bilden sich traumatische Teile, die von der Psyche verdrängt werden und die die ganze Persönlichkeit der Betroffenen belasten, etwa durch innere Unruhe oder immer wiederkehrende Bilder des Erlebten. Die Erstarrung kann aber auch körperliche Abwehrmechanismen hervorrufen, etwa selbstverletzendes Handeln wie Ritzen oder Selbstmordgedanken.
Frage: Wie geht eine Traumatherapie in dieser Situation vor?
Pflaum: Eine Traumatherapie oder auch eine Traumaseelsorge zielt darauf ab, die schlimmen Erlebnisse, die jemand gemacht hat, wie eine Art Knoten aufzulösen – sowohl psychisch als auch körperlich. Eine reine Redekur, die sagt: "Erzähl doch mal!", reicht dazu in der Regel nicht aus. Man braucht einen sicheren Punkt, in dem der Traumatisierte Halt hat. Bei der Traumatherapie verwendet man dafür zum Beispiel körperliche Wahrnehmungsübungen, das kann aber auch etwas Spirituelles sein, wie das Jesus-Gebet. Und von diesem Punkt aus kann ich mich dann Schritt für Schritt den traumatisierten Teilen nähern – immer nur so weit, wie der Traumatisierte es ertragen kann, ohne dass er von seinen Gefühlen und den schlimmen Bildern überrollt wird. Ich muss die Person zu jeder Zeit wieder an den sicheren Punkt zurückholen können, sonst besteht die Gefahr der Retraumatisierung.
Das Erstaunliche ist jetzt, dass diese Methode des sicheren Halts und des schrittweisen Vortastens an das Unbekannte, die zentraler Bestandteil aller großer Traumatherapien ist, eine große Ähnlichkeit hat mit der christlichen Meditation, so wie sie im kontemplativen Gebet gelehrt wird.
Frage: Können Sie diesen Zusammenhang genauer erläutern?
Pflaum: Da kann man schon an das Jesus-Zitat anknüpfen: "Wer mein Jünger sein will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach." Indem ich auf Jesus Christus schaue, also zum Beispiel seinen Namen meditiere, habe ich den sicheren Halt, und sich dem Kreuz nähern ist nichts anderes, als sich dem Dunklen nähern.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist der wichtige Aspekt des in die Gegenwart-Kommens oder in der Gegenwart-Lebens. Da gibt es etwa bei Ignatius von Loyola die Übung der fünf Sinne. In der Kontemplation wird das ganz real durchgeführt, dass ich in den Wald oder in die Natur gehe und meine fünf Sinne einsetze, um in die Gegenwart zu kommen, präsent zu sein und mich von meinen Gedanken zu lösen.
Genau diese Fokussierung der Sinne ist auch in der Traumatherapie sehr hilfreich: Eine Person, die in Gefahr steht, sich zu ritzen, hat den Zugang zu ihrem Körper verloren. In diesem Fall stellen Traumatherapeuten Erste-Hilfe-Kits für den Alltag zusammen – das kann zum Beispiel ein Riechfläschchen sein, mit dem sich die betroffene Person aus einer überfordernden Situation zurückholen kann. Das ist der gleiche geistig-körperliche Ansatz, wie ein Meditierender versucht, seinen Gedankenstrudel zu verlassen.
Frage: Sie haben das Jesus-Gebet als Möglichkeit zur Fokussierung genannt. Gerade für Menschen, die im kirchlichen Umfeld Missbrauchserfahrungen erlebt haben, wurde aber oft auch die positive Seite Gottes kontaminiert. Kann der Rückgriff auf religiöse Bilder hier noch heilsam sein?
Pflaum: Als Traumatherapeut hat man natürlich verschiedene Möglichkeiten, diesen Halt aufzubauen. Das kann rein körperlich geschehen durch Körperwahrnehmungs- oder Atemübungen. Auch schon die einfache Frage: "Was siehst du?", kann ausreichen, um jemanden aus traumatischen Bildern zurück in die Gegenwart zu bringen. Das heißt, man muss nicht die Begriffe Gott oder Jesus verwenden. Der Halt muss sehr fundamental aufgebaut werden, und das geschieht bei jeder Person anders. Auch in der Meditation beginnt man ja nicht direkt mit dem Jesus-Gebet, sondern mit Körperwahrnehmung. Das ist das Fundament.
Aus der bewussten Erfahrung des eigenen Atems, der Beruhigung und Sicherheit im Hier und Jetzt kann eine Ahnung der Gegenwart Gottes werden. Dann ist die Gnade selbst unabhängig von der Vermittlung durch religiöse Bilder heilsam.
Frage: Wieso finden Traumatherapien bisher wenig Anwendung im kirchlichen Umgang mit Betroffenen von Missbrauch?
Pflaum: Es gibt viel zu wenige Seelsorger, die eine traumasensible Seelsorge machen können. Insofern ist schon viel geholfen, wenn etwa die entsprechenden Diözesanstellen Betroffene an kompetente Traumatherapeuten weiterleiten. Ob das natürlich immer passiert, wage ich zu bezweifeln. Aber was uns wirklich fehlt, sind Leute in unseren eigenen Reihen, die hier umfangreich therapeutisch geschult sind und die gleichzeitig die religiösen Bezüge kennen. Da ist die ökumenische Initiative "GottesSuche" die einzige, die ich kenne, die wirklich auf dem Niveau im kirchlichen Bereich arbeiten. Es wird seit einigen Jahren zum Glück sehr viel im Bereich Prävention gemacht, aber traumasensible Pastoral ist etwas völlig anderes und da haben wir quasi eine flächendeckende Leerstelle.
Frage: In Ihrem Buch vertreten Sie die These, dass auch die Kirche selbst traumatisiert ist. Was meinen Sie damit?
Pflaum: Das kann man anhand des "Inneren Familiensystems" von Richard Schwartz, das auch eine führende Traumatherapie geworden ist, gut verdeutlichen. Schwartz unterscheidet drei Teile in der menschlichen Psyche: Manager, Feuerbekämpfer und Verbannte. Bei einer traumatisierten Person sind die Verbannten-Teile zum Beispiel die schlimmen Ereignisse, die sie nicht fühlen will. Dazu baut sie sich innere Fähigkeiten auf, um im Alltag irgendwie zu funktionieren, das sind die Manager-Teile. Und dann gibt es Feuerbekämpfer-Teile, die dafür sorgen, dass die Verbannten sozusagen sofort wieder in den Keller gesperrt werden, sobald sie mal hochkommen. Das kann Ritzen, Drogenkonsum oder ein anderer Abwehrmechanismus sein.
Wenn man diese Struktur auf die Kirche anwendet und die letzten zehn Jahre anschaut, dann sieht man, dass die Kirche als System einen ständigen Verdrängungsprozess vollzieht: Die Verbannten-Teile sind in diesem Fall die traumatisierten Menschen selbst. Die meisten Bischöfe umkreisen dieses Thema in ihren Äußerungen wie einen blinden Fleck, dem man sich nicht nähern möchte. Damit verhalten sie sich wie die Manager im Innerem Familiensystem. Viele haben sich dem Thema nur so weit genähert, wie es gerade notwendig ist. Dann kommen die Feuerbekämpfer durch, die schnell auf andere Themen ablenken. Insofern ist die Ähnlichkeit frappierend, dass das System Kirche die Traumatisierten genauso verdrängt hat, wie die Betroffenen ihre traumatischen Erlebnisse.
Frage: Wo hat dieses "Kirchentrauma" seinen Ursprung?
Pflaum: In der Augustinischen Erbsündenlehre. Das ist eine meiner Hauptthesen, dass dieses negative Menschenbild der Nährboden schlechthin ist, der, kombiniert mit einem überhöhten Priestertum, eine Machtstruktur geschaffen hat, in dem der Priester manipulativ und gewaltsam wirken kann, ohne entdeckt zu werden.
Die fatale Grundannahme ist ja, dass der Mensch durch den Sündenfall in seinem Wesen böse und schlecht ist und deswegen durch eine äußere Macht wie die Kirche beziehungsweise die Gnade Gottes zum Guten "gezwungen" werden muss. Natürlich gab es immer auch Strömungen, die ein positiveres Menschenbild vertreten haben. Aber die kirchliche Lehre hat es nie geschafft, diesem augustinischen Teil wirklich zu widersprechen und zu sagen: "Der vergiftet uns." Und das ist eine Verantwortung, die vor allem Bischöfe und Päpste zu tragen haben.
Frage: Theologisch sind diese Vorstellungen größtenteils überholt und spielen im kirchlichen Leben kaum noch eine Rolle. Reicht das nicht?
Pflaum: Nein, es reicht nicht, das durch Ignorieren hinter sich lassen zu wollen. Man muss aktiv sagen: "Schluss mit diesem negativen Menschenbild!" Gerade im Bereich der Sexualität wird die Lehre der Kirche noch immer zu einer unterdrückerischen Macht, die die Menschen innerlich spaltet. Deswegen reicht es nicht, Prävention zu betreiben und die Traumatisierten zu unterstützen. Wir müssen an allen Ebenen arbeiten, wir müssen an unsere Theologie und an unsere Praxis gehen!
Frage: Manche Bischöfe sind Ihnen im Umgang mit Missbrauchsopfern auch positiv aufgefallen. Sie nehmen etwa Bezug auf das Gespräch zwischen Doris Reisinger und Kardinal Schönborn, der zu ihr sagte: "Ich glaube Ihnen." Warum war dieser Satz so wichtig?
Pflaum: Wie wichtig es ist, den Betroffenen Glauben zu schenken und ihnen das auch zu sagen, habe ich in meinen eigenen Begleitungen immer wieder erlebt. Sie brauchen die Bestätigung, dass man ihnen glaubt, dass ihre Erlebnisse als real anerkannt werden, um sich dem Schlimmen stellen zu können.
Aber auch aus historischer Perspektive sind solche Glaubenszusagen wichtig: Sigmund Freud hätte in seiner Forschung zu den damals als "hysterisch" bezeichneten Frauen schon entdecken können, dass sexuelle Gewalt zu Traumatisierungen führen kann. Aber er ist dieser Erkenntnis, dass so viele Frauen betroffen sein könnten, ausgewichen und hat stattdessen pathologische Gründe gesucht. Die ganze Geschichte der Traumatherapie ist eine Geschichte, in der das Schlimme auch von den Wissenschaftlern immer wieder verdrängt worden ist, weil sie sich dem Grauen nicht aussetzen wollten. Ähnlich, wie man es in der Kirche zum Teil heute noch beobachten kann.
"Für eine trauma-existentiale Theologie" von Michael Pflaum
Das Buch "Für eine trauma-existentiale Theologie. Missbrauch und Kirche mit Traumatherapien betrachtet" von Dekan Michael Pflaum umfasst 372 Seiten. Es kostet 13,99 Euro.