Moraltheologe: Nicht jeder Fehler muss zu einem Rücktritt führen
Kardinal Marx wollte – durfte aber nicht; Kardinal Woelki sollte nach Ansicht vieler Kritiker – will aber nicht; und Erzbischof Heße würde gerne – weiß aber noch nicht, ob er darf: Die Frage nach Bischofsrücktritten hat in der katholischen Kirche seit einigen Monaten Hochkonjunktur. Und auch in der Bundespolitik wurde im Zuge des Afghanistan-Desasters jüngst lautstark über Rücktritte diskutiert. Doch wann sollte ein Amtsträger wirklich zurücktreten? Und wann eher nicht? Und was bewirkt ein Rücktritt überhaupt? Dazu gibt der Berliner Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl, der auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, im katholisch.de-Interview Antworten. Außerdem sagt er, welcher Rücktritt ihn besonders beeindruckt hat und welchen Rücktritt er gerne gesehen hätte, der aber nie stattgefunden hat.
Frage: Professor Lob-Hüdepohl, im Zuge des Afghanistan-Desasters sahen sich mehrere Mitglieder der Bundesregierung zuletzt mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Aus Ihrer Sicht zu Recht?
Lob-Hüdepohl: Was die Forderungen nach Rücktritten im Zusammenhang mit Afghanistan anbelangt, bin ich eher zurückhaltend. Schließlich haben wir hier offensichtlich ein kollektives Versagen ganzer Regierungen, ja des gesamten westlichen Bündnisses erlebt. Einzelne Rücktritte – etwa des Außenministers oder der Verteidigungsministerin – würden deshalb aus meiner Sicht den falschen Eindruck vermitteln können, dass es einzelne, konkret identifizierbare Verantwortliche für das Desaster gibt. Dies wiederum hätte zur Folge, dass sich andere handelnde Personen sehr bequem aus ihrer eigenen Verantwortung zurückziehen könnten. Zur Erinnerung: Noch im Frühsommer hat es eine breite Mehrheit des Bundestags abgelehnt, schnell und unbürokratisch die Ortskräfte aus Afghanistan nach Deutschland zu holen.
Frage: In welchen Fällen ist ein Rücktritt als Mittel der Übernahme von Verantwortung denn Ihrer Meinung nach geboten oder gar zwingend erforderlich?
Lob-Hüdepohl: Das kann man so pauschal nicht beantworten. Es gibt schließlich keinen allgemeingültigen "Rücktrittsknigge", an dem man sich bei der Frage, ob ein Rücktritt geboten ist oder nicht, orientieren könnte. Ein Rücktritt als Zeichen der Übernahme politischer Verantwortung für schwere Fehler und Versäumnisse ist immer ein individueller und situationsbezogener Vorgang. Das bedeutet auch, dass nicht jeder Fehler oder Missstand, für den eine Amtsperson in ihrem Wirkungsbereich persönlich die Verantwortung übernimmt, automatisch zum Rücktritt führen muss.
„Man muss nicht erst im rechtlichen Sinne schuldhaft gehandelt haben, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen als Voraussetzung für die Ausübung eines bischöfliches Amt eingebüßt zu haben.“
Frage: Insbesondere in Boulevardmedien und sozialen Netzwerken wird häufig die These vertreten, dass Verantwortungsträger früher oft schon nach geringfügigen Fehlern zurückgetreten seien, während heute fast niemand mehr auf diese Weise Verantwortung übernehme – auch nicht bei schweren Versäumnissen. Ist der Rücktritt als Mittel der Übernahme von Verantwortung aus der Mode gekommen?
Lob-Hüdepohl: Mit Verlaub, das halte ich für einen allzu verklärenden Blick auf die Vergangenheit. In Mode waren Rücktritte nie, auch in früheren Jahren sind etwa Politiker häufig erst nach großem öffentlichen Druck zurückgetreten. Grundsätzlich gilt: Ein Rücktritt sollte immer nur das letzte Mittel sein, um politische Verantwortung zu übernehmen. Ob ein Rücktritt geboten ist oder nicht, sollte dabei immer auch im Blick auf die Zukunft entschieden werden. Wenn ein Amtsträger trotz einer fehlerhaften Entscheidung oder struktureller Mängel in seinem Verantwortungsbereich über die persönliche Kompetenz und das Vertrauen der Betroffenen verfügt, entsprechende Fehler in der Zukunft zu vermeiden und Missstände wirklich zu beheben, wäre ein Rücktritt vielleicht sogar kontraproduktiv.
Frage: Erinnern Sie sich an einen Rücktritt, der Sie besonders beeindruckt hat und der heute noch als beispielhaft gelten kann?
Lob-Hüdepohl: Ganz klar der Rücktritt von Margot Käßmann im Jahr 2010 – auch wenn Sie das jetzt vielleicht wundert. Frau Käßmann ist als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Landesbischöfin von Hannover ja nicht deshalb zurückgetreten, weil ihr in ihrem Zuständigkeitsbereich gravierende Fehler unterlaufen wären, sondern weil sie sich mit ihrer Alkoholfahrt im privaten Lebensumfeld einen persönlichen Fehltritt geleistet hat. Ihr Rücktritt verdeutlicht zudem die Zukunftsdimension, von der ich eben sprach: Frau Käßmann hat damals entschieden, dass ihr Fehler – so klein und lässlich er auch gewesen sein mag – das Vertrauen der Menschen in ihre Kompetenz und ihre Glaubwürdigkeit so tief erschüttert haben könnte, dass eine Weiterarbeit für sie nicht möglich wäre. Sie wusste, dass Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die persönliche Integrität das entscheidende Kapital für ein bischöfliches Amt ist – und nicht irgendwelche Insignien bischöflicher oder amtsbezogener Macht.
Frage: Und welchen Rücktritt hätten Sie sich gewünscht, der aber nie stattgefunden hat?
Lob-Hüdepohl: Oh je, das behalte ich besser für mich. Allerdings schüttele ich immer nur verstört den Kopf, wenn Amtspersonen allein deshalb jede Rücktrittsforderung zurückweisen, weil sie sich im juristischen Sinne nicht schuldig gemacht haben. Sie verkennen damit die genuin moralische Dimension politischer Verantwortung. Eigentlich dokumentieren sie damit nur, dass sie für die Ausübung eines öffentlichen Amtes ungeeignet sind.
Frage: Amtsträger, die sich Rücktrittsforderungen ausgesetzt sehen – in der katholischen Kirche derzeit etwa Kölns Kardinal Rainer Maria Woelki –, argumentieren häufig, dass ihre Verantwortung gerade darin bestehe, im Amt zu bleiben und Aufklärung zu betreiben. Ein Rücktritt käme nach dieser Logik einer Flucht aus der Verantwortung gleich. Wie sehen Sie das?
Lob-Hüdepohl: Wie gesagt: Verantwortung übernimmt man nicht nur, indem man Aufklärung betreiben will, sondern auch, indem man überzeugend vermitteln kann, dass man zu Veränderungen bereit und in der Lage ist. Dazu bedarf es Glaubwürdigkeit, Kompetenz und des Vertrauens derer, für die man Verantwortung trägt. Ob das bei Kardinal Woelki der Fall ist, müssen vor allem die Gläubigen vor Ort entscheiden. Und wenn ich recht wahrnehme, gibt es da erhebliche Zweifel – sowohl in vielen Gemeinden als auch im gesamten Presbyterium und den diözesanen Gremien. Und das ist auch verständlich: Immerhin war Woelki als Erzbischöflicher Kaplan und Geheimsekretär, als Regens des Priesterseminars und als Weihbischof über Jahrzehnte einer der engsten Mitarbeiter von Kardinal Joachim Meisner, der – wenn die Missbrauchsgutachten richtig liegen – tief in die Vertuschungsgeschichte der sexualisierten Gewalt verstrickt war. Man muss nicht erst im rechtlichen Sinne schuldhaft gehandelt haben, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen als Voraussetzung für die Ausübung eines bischöfliches Amt eingebüßt zu haben.
„Kardinal Marx hat sich mit dem Rücktrittsangebot seiner persönlichen Verantwortung für gravierende kirchenpolitische Missstände gestellt. In gewisser Weise hat er mit seinem Angebot an den Papst eine auf Zukunft gerichtete Vertrauensfrage gestellt.“
Frage: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das im Juni bekannt gewordene Rücktrittsangebot von Kardinal Reinhard Marx? Marx wollte als Erzbischof von München und Freising zurücktreten, um "Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten"; Papst Franziskus lehnte das Rücktrittsangebot jedoch ab.
Lob-Hüdepohl: Kardinal Marx hat sich mit dem Rücktrittsangebot seiner persönlichen Verantwortung für gravierende kirchenpolitische Missstände gestellt. In gewisser Weise hat er mit seinem Angebot an den Papst eine auf Zukunft gerichtete Vertrauensfrage gestellt. Und Franziskus hat diese Vertrauensfrage mit großer Entschiedenheit beantwortet: "Bleib und mach weiter." Allerdings ersetzt der Vertrauensbeweis des Papstes nicht das Vertrauen der Gläubigen im Erzbistum München und Freising. Marx muss nun Antworten auf drängende Fragen geben und die von ihm angemahnten Veränderungen in der Kirche auch selbst vorantreiben. Und Rom muss ihn machen lassen. Sonst geriete alles zur Farce.
Frage: Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des kirchlichen Missbrauchsskandals hat im März auch der Hamburger Erzbischof Stefan Heße dem Papst seinen Rücktritt angeboten. Eine Entscheidung darüber ist – sehr zum Leidwesen des Erzbistums Hamburg – bislang nicht getroffen worden. Bräuchte es hier nicht endlich Klarheit?
Lob-Hüdepohl: Natürlich, Klarheit ist immer gut. Aber mit Verlaub: Klarheit beschränkt sich nicht auf die Frage, ob das Rücktrittsangebot von Erzbischof Heße angenommen wird oder nicht. Klarheit bedarf es auch bei den Gründen, die für die Entscheidung maßgeblich sind. Und die hängen nun mal stark mit dem Dickicht im Erzbistum Köln zusammen. Insofern ist die aktuelle Situation für Hamburg zwar extrem misslich, aber in gewisser Weise so lange unvermeidbar, bis der Vatikan den Bericht der beiden Visitatoren über die Zustände in Köln ausgewertet hat.
Frage: Mit Blick auf die deutschen Bischöfe und ihren Umgang mit dem Missbrauchsskandal wird gelegentlich auf das Beispiel der chilenischen Bischöfe verwiesen, die dem Papst 2018 aufgrund der Missbrauchsfälle in ihre Kirche kollektiv ihren Rücktritt angeboten hatten. Hätten die deutschen Bischöfe einen ähnlichen Weg wählen sollen?
Lob-Hüdepohl: Die deutschen Bischöfe haben als Kollektiv einen anderen Weg gewählt – nämlich den Synodalen Weg. Er dient zwar nicht allein der Aufarbeitung des Skandals sexualisierter Gewalt. Aber mit seinen Themen dient er der Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen – vorausgesetzt, dass er für die Kirche in Deutschland und weltweit tatsächlich Impulse für Veränderungen geben kann. Und noch viel wichtiger: Der Synodale Weg dient auch dazu, die Frohe Botschaft des heilsam-befreienden Gottes wieder stärker aufleuchten zu lassen. Denn Machtmissbrauch, Klerikalismus, die Zurücksetzung von Frauen oder eine lebensfeindliche Verengung kirchlicher Sexualmoral verdunkeln das Evangelium. Wenn die Bischöfe dies beim Synodalen Weg gemeinsam mit dem ganzen Gottesvolk behutsam angehen, dann ist dies ein viel stärkerer Ausdruck ihrer kirchenpolitischen Verantwortung als jedes kollektive Rücktrittsangebot.