Liturgiker Kranemann: Trauerfeiern auch für Konfessionslose öffnen
In diesem Jahr gab es schon zwei zentrale Trauerfeiern – für die Covid-Toten einen Staatsakt plus ökumenischen Gottesdienst, für die Flutopfer einen Gottesdienst, in dem auch der Bundespräsident sprach. Hinzu kam ein Staatsakt des Landes Rheinland-Pfalz am Nürburgring. Aus Sicht des katholischen Liturgiewissenschaftlers Benedikt Kranemann sollte je nach Anlass darüber entschieden werden, welche Form sinnvoll ist. Er leitet an der Universität Erfurt das Forschungsprojekt "Disaster Rituals" (Rituale nach Katastrophen).
Frage: Professor Kranemann, es gibt inzwischen mehrere Modelle für öffentliche Trauerfeiern. Welche Variante finden Sie angemessener?
Kranemann: Pauschal kann man nicht von angemessen oder unangemessen sprechen. Es kommt sehr auf die jeweilige Situation und die Betroffenen an. Wir sind in Deutschland mittlerweile in der Situation, dass wir gesellschaftlich und auch kirchlich auf einen großen Bestand ritueller Formen nach solchen Katastrophen zurückgreifen können. Das erleichtert ein situationsgerechtes Handeln nach solchen schrecklichen Vorfällen, in denen ja häufig wenig Zeit für die Vorbereitung von Gedenkfeiern bleibt.
Frage: Können Sie etwas über die Zuschauer-Reaktionen sagen?
Kranemann: Sie zeigen, dass das Totengedenken vielen ein wirkliches Anliegen ist. Und sie dokumentieren, dass es natürlich wichtig ist, über die materiellen Schäden durch die Flut zu sprechen und hier zu helfen. Aber die Toten, die Menschen, die ihr Leben verloren haben, auch diejenigen, denen mit Hab und Gut auch ein wesentliches Stück Lebensgeschichte genommen worden ist, stehen im Vordergrund. Offensichtlich haben sich viele Zeit genommen, um ihrer zu gedenken. Die Reaktionen der Zuschauer und Zuschauerinnen zeigen, wie wichtig solche Gedenkfeiern sind.
Frage: In Aachen bei der Trauerfeier für die Flutopfer waren ein Rabbiner mit dem Vortrag eines Psalms und ein Imam mit der Rezitation einer Koran-Sure an der Liturgie beteiligt, aber kein explizit Konfessionsloser. Wird damit der Pluralität in unsere Gesellschaft hinreichend Rechnung getragen?
Kranemann: Auf jeden Fall wird mit dieser Beteiligung eine stärkere Mitwirkung von Menschen anderer Religionen ermöglicht, als das in der Vergangenheit geschehen ist. Zumal der Rabbiner und der Imam im Aachener Dom ja wie selbstverständlich in den Gottesdienst integriert waren. Dennoch stehen die Verantwortlichen für solche Feiern damit noch am Anfang, denn tatsächlich sollte sich in solchen Gedenkfeiern die Gesellschaft in ihrer ganzen Pluralität deutlich widerspiegeln. Über ein Mehr an Beteiligung wird nachzudenken sein. Und die Feiern werden insgesamt daraufhin zu befragen sein, ob sie in Sprache und Ritus einladen und beteiligen oder ob sie bestimmte gesellschaftliche Gruppen ausschließen. Das gilt auch für Konfessionslose. Diese wachsende Gruppe in unserer Gesellschaft muss hier selbstverständlich Berücksichtigung finden. Das ist aber nicht einfach, denn diese Gruppe lässt sich kaum fassen. Zu ihr gehören ebenso Christinnen und Christen dazu, die sich keiner Kirche zurechnen, wie auch Atheistinnen und Atheisten. Offenheit der Feiern ist gefragt. Eine entscheidende Rolle spielen Musik, deutungsoffene Rituale, Texte, die eben nicht nur für eine einzige Religionsgemeinschaft oder gar Konfession rezipierbar sind. Die Feiern müssen sich für die Trauer einer pluralen Gesellschaft bewähren.
Frage: Sollte es für derartige Feiern eine mehr oder weniger feste "zivilreligiöse" Form geben, oder sollte man weiter anlassbezogen über das Gedenken entscheiden?
Kranemann: Wir verfügen in Deutschland mittlerweile über unterschiedliche Modelle gesellschaftlichen Totengedenkens. Mindestens fünf lassen sich unterscheiden: der ökumenische Gottesdienst, wie er jetzt in Aachen gefeiert worden ist, mit unmittelbar anschließender staatlicher Trauerfeier; dann getrennt voneinander ökumenischer Gottesdienst und staatliche Feier, wie vor einigen Monaten in Berlin im Gedenken an die Toten der Corona-Pandemie. Es gibt eine Trauerfeier, in der die verschiedenen Religionsgemeinschaften im Nebeneinander zur Sprache kommen und beten können, so vor einigen Jahren nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt. Natürlich existieren weiterhin die Trauerfeiern innerhalb einer Religionsgemeinschaft; und es gibt den reinen Staatsakt, in dieser Woche beispielsweise für die Flutopfer in Rheinland-Pfalz. Hier ist viel in Bewegung, und das muss auch so sein, denn die Gesellschaft, die ihrer Toten gedenkt, entwickelt sich ja weiter. Es muss je nach Anlass darüber entschieden werden, welche Form sinnvoll ist und vor allem den Betroffenen wie der Gesellschaft Trost und Halt bieten kann. Letzteres muss im Vordergrund stehen, nicht die Interessen welcher Institution auch immer. Dabei spielen zivilreligiöse Momente eine immer größere Rolle, die vielleicht in den kommenden Jahren noch wachsen wird.
Frage: Wer könnte oder sollte solche Formen entwickeln?
Kranemann: Lange Zeit wurde vorausgesetzt, dass die Kirchen allein diese Kompetenz besitzen. Und sie verfügen sicherlich darüber, wie jetzt der Gottesdienst in Aachen eindrucksvoll gezeigt hat. Aber die Trauerfeier, die der Bundespräsident für die Corona-Toten vor einigen Monaten ausgerichtet hat, belegt, dass auch andere Akteure in der Gesellschaft auf diesem Feld kompetent sind. Letztlich obliegt es einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, wem man die Verantwortung gibt. Die Trauerfeiern, die die Kirchen seit Jahrzehnten vorbereiten, haben sich sehr bewährt. Kirchen werden auch weiterhin wichtige Akteure bleiben, wenn es ihnen gelingt, andere gesellschaftliche und religiöse Gruppen angemessen zu beteiligen. Das Bemühen ist festzustellen und anzuerkennen. Aber das bleibt ein permanenter Lernprozess.
Frage: Wie wichtig sind solche zentralen Gedenkfeiern überhaupt für Kirche und Gesellschaft?
Kranemann: Sie sind wirklich wichtig und zentral, und dies aus unterschiedlichen Gründen. Für die Gesellschaft ist diese Form der Solidarität und des Zusammenhalts wichtig, weil das schreckliche Ereignis nicht im Alltagsgeschäft untergehen soll. In Aachen ist mehrfach formuliert worden, dass das Land in der Katastrophe zusammenhält und man aufeinander setzen kann. Das bringen solche Trauerrituale ins Bild. Sie thematisieren nicht nur grundlegende Werte der Gesellschaft, sondern sie bringen sie zur Erfahrung: Eine Frau erzählt von ihren Ängsten in der Flut und ihren Verlusten. Die Gesellschaft bis zur Staatsspitze hört zu, ist diesem Menschen nahe, verpflichtet sich zur Hilfe. Aus Untersuchungen wissen wir, dass es für Menschen wichtig ist, dass eine solche Katastrophe öffentlich thematisiert werden kann, und dazu zählen auch solche Ängste. Die Kirchen bieten Raum und Riten, in denen das gelingen kann. Zugleich müssen sie aufgrund ihrer Glaubensbotschaft in Leid und Tod Menschen nahe sein. Wenn sie sich für solche Gedenkfeiern engagieren, verwirklichen sie ihren basalen Auftrag, gerade in Situationen von Leid und Verzweiflung Menschen nicht allein zu lassen, sondern ihnen Hoffnung zuzusprechen.