Neher: Stolz kommt mir beim Blick auf meine Amtszeit nicht in den Sinn
Er war über Jahre hinweg das Gesicht der deutschen Caritas: Prälat Peter Neher. Seit 2003 steht der Geistliche an der Spitze des Deutschen Caritasverbands. Doch in wenigen Wochen endet Nehers Amtszeit. Im großen Bilanzinterview von katholisch.de blickt der gebürtige Allgäuer auf seine Arbeit und die wichtigsten Themen der vergangenen 18 Jahre zurück. Außerdem spricht er über die Herausforderung der Klimakrise, die aktuelle Lage in Afghanistan und "unverantwortliche" Aussagen von Unions-Politikern dazu sowie die hitzige Debatte um den von der Caritas abgelehnten Flächentarifvertrag in der Altenpflege.
Frage: Prälat Neher, Sie kandidieren im Oktober nicht für eine weitere Amtszeit als Präsident des Deutschen Caritasverbands. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf das bevorstehende Ende Ihrer 18-jährigen Amtszeit zurück?
Neher: Zunächst einmal bin ich vor allem dankbar, dass ich diese Aufgabe so lange wahrnehmen durfte. In "Gaudium et spes", der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, heißt es am Anfang: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi." Dieser Satz war für mich immer ein Leitmotiv meines Lebens und meines Handelns als Christ, und insofern war die Arbeit bei der Caritas für mich natürlich sehr erfüllend. Gleichzeitig will ich aber auch nicht verhehlen, dass ich mich darauf freue, die mitunter durchaus herausfordernde Aufgabe als Caritaspräsident nach so vielen Jahren in andere Hände geben zu können.
Frage: Ihr Abschied fällt in eine unruhige Zeit – Stichwort Corona. War die Pandemie der vergangenen eineinhalb Jahre die größte Herausforderung Ihrer Amtszeit?
Neher: Mit solchen Superlativen bin ich immer vorsichtig. Natürlich hat Corona der Caritas in allen Bereichen viel abverlangt und auch meinen Alltag über Monate hinweg dominiert. Trotzdem war die Pandemie in dieser Zeit nicht die einzige Herausforderung. Denken Sie nur an die vergangenen Wochen, als wir zuerst mit der schrecklichen Flutkatastrophe an Ahr und Erft und dann mit dem Desaster in Afghanistan konfrontiert waren. Ebenso wie die Pandemie werden auch diese Katastrophen die Caritas sicher noch weit über das Ende meiner Amtszeit hinaus stark herausfordern.
Frage: Gibt es etwas, auf das Sie im Rückblick auf Ihre Arbeit in den vergangenen 18 Jahre besonders stolz sind?
Neher: Stolz kommt mir am wenigsten in den Sinn, wenn ich auf meine Amtszeit zurückblicke; das ist keine relevante Kategorie für mich. Dankbarkeit ja – etwa, wenn es der Caritas durchaus dann und wann gelungen ist, lautstark ihre Stimme gegen soziale Ungerechtigkeiten und für mehr Menschlichkeit etwa im Kontext der Flüchtlingsthematik zu erheben.
„Es macht mich richtig wütend, dass die soziale Herkunft für die Bildungsmöglichkeiten in Deutschland heute immer noch eine so große Rolle spielt.“
Frage: Blicken wir auf die sozialen Verhältnisse in Deutschland. Die Caritas warnt seit Jahren davor, dass die soziale Schere in der Gesellschaft immer weiter auseinandergeht. Was sind aus ihrer Sicht die problematischsten Folgen dieser Entwicklung?
Neher: Hier muss man zunächst klar machen: Wenn die Caritas eine zunehmende Ungleichheit beklagt, bezieht sich diese Aussage weniger auf die Einkommen. Hier geht die Schere eher nicht auseinander. Ein Riesenproblem ist jedoch die Vermögensungleichheit in Deutschland, die in den vergangenen 20 Jahren noch einmal enorm zugenommen hat. Das hängt vor allem mit Erbschaften zusammen: Wer nichts hat, kann auch nichts vererben. Wer jedoch reich ist, kann sein Vermögen weitgehend unbehelligt vom Staat – sprich: nur mit einer geringen Erbschaftssteuerbelastung – vererben. Und das potenziert natürlich die gesellschaftliche Spaltung in Arm und Reich. Übrigens hat diese Entwicklung auch ganz konkrete Folgen für das gesellschaftliche Miteinander: Wer sich finanziell abgehängt fühlt, der hat auch wenig Interesse daran, sich ehrenamtlich für das Gemeinwesen zu engagieren. Ein weiteres Problem ist, dass Menschen in schwierigeren Lebensverhältnissen deutlich seltener an Wahlen teilnehmen als Menschen aus der Mittel- oder Oberschicht. Und das führt dann natürlich dazu, dass die Politik sich im Zweifel eher an den Interessen der besser situierten Schichten orientiert.
Frage: Sie haben das Stichwort Erbschaften angesprochen. Seit vielen Jahren wird – bislang weitgehend ergebnislos – darüber diskutiert, ob Erbschaften stärker besteuert werden sollten. Was ist hier die Position der Caritas?
Neher: Wir fordern schon seit langem eine deutlich höhere Besteuerung von Erbschaften. Das hat schlicht und einfach etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun; der Grundsatz "Eigentum verpflichtet" in Artikel 14 des Grundgesetzes darf keine Leerformel sein. Insofern besteht hier aus unserer Sicht tatsächlich dringender Handlungsbedarf.
Frage: Zwei sozialpolitische Dauerbrenner sind auch die zunehmende Bildungsungleichheit und die erschreckend hohe Kinderarmut in Deutschland. Die Bertelsmann-Stiftung sprach im vergangenen Jahr mit Blick auf die Kinderarmut von einer der größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland. Wie blicken Sie auf das Thema?
Neher: Das betrübt mich natürlich sehr. Auch weil ich selbst ein Profiteur der sozial-liberalen Bildungsreformen der 1970er Jahre bin. Ohne diese Reformen hätte ich aufgrund meiner Herkunft kaum Abitur machen und studieren können. Auch aufgrund dieser persönlichen Erfahrung macht es mich richtig wütend, dass die soziale Herkunft für die Bildungsmöglichkeiten in Deutschland heute immer noch eine so große Rolle spielt. Dass das so ist, hat man während der Corona-Pandemie gesehen. In Sachen Homeschooling hatten Kinder aus der Mittel- und Oberschicht hier deutliche Vorteile, weil ihre Eltern sie viel intensiver begleiten konnten und sie räumlich und technisch meist deutlich besser ausgestattet waren als Kinder aus ärmeren Schichten. Hier muss dringend etwas passieren – aufgrund der föderalen Zuständigkeiten natürlich zuerst in den Ländern. Aber auch der Bund muss mehr Verantwortung übernehmen und die Länder bei dieser Aufgabe unterstützen.
Frage: Ein zentrales Thema während Ihrer gesamten Amtszeit war Hartz IV, das kurz nach Ihrem Amtsantritt vom Bundestag beschlossen und zum 1. Januar 2005 eingeführt wurde. Wie blicken Sie heute auf Hartz IV?
Neher: Ich ziehe bei diesem Thema eine gemischte Bilanz. Einerseits ist es durch die Einführung von Hartz IV gelungen, die Arbeitslosigkeit, die 2005 noch sehr hoch war, deutlich zu senken. Dies geschah jedoch um den Preis, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland dramatisch angewachsen ist. Hinzu kommt, dass die Politik bei der Einführung von Hartz IV einige gravierende Fehler gemacht hat. Der abrupte Absturz von Arbeitslosengeld auf Arbeitslosenhilfe – mit dramatischen Folgen für den sozialen Status der Betroffenen –, der überzogene Sanktionsmechanismus, ungenügend kalkulierte Regelsätze und eine völlig überforderte Bürokratie haben die Reform in den ersten Jahren stark diskreditiert und schmerzhafte gesellschaftliche Verwerfungen hervorgerufen. Das ist erst durch die Korrekturen der Hartz-Gesetze in den Jahren danach besser geworden.
Frage: Hartz IV spielt auch in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl eine Rolle. Selbst SPD und Grüne, die die Hartz-Reformen damals in der Regierung beschlossen haben, fordern inzwischen eine Überwindung von Hartz IV. Was ist die Haltung der Caritas?
Neher: Wir fordern eine Weiterentwicklung von Hartz IV mit dem Ziel, den Einzelnen künftig noch passgenauer und längerfristiger zu fördern. Außerdem sprechen wir uns für eine Überarbeitung der Methodik für die Kalkulation der Regelsätze aus. Wenn man hier zu einer fairen Berechnung kommen will, müssen die "verdeckt Armen" – also jene Menschen, die wegen ihres geringen Einkommens und Vermögens zwar einen Anspruch auf staatliche Unterstützung hätten, diese aber nicht beantragen – aus der Referenzgruppe für den Regelbedarf herausgerechnet werden, weil sie das Niveau der Regelsätze letztlich verfassungswidrig senken. Die Regelsätze müssen zudem stärker die heutigen Bedarfe berücksichtigen – Stichwort Digitalisierung. Ein mobiles Endgerät ist heute kein Luxusartikel mehr, sondern eine zwingende Notwendigkeit.
Frage: Die zentrale Aufgabe der kommenden Jahre und Jahrzehnte ist der Kampf gegen den Klimawandel. Welche sozialen Folgen hat der Klimawandel aus Ihrer Sicht?
Neher: International sehen wir schon lange, wer vom Klimawandel besonders stark betroffen ist. Das sind in der Regel ärmere Menschen, die in schlechten Wohnverhältnissen oder in Regionen leben, die in besonderer Weise von Naturkatastrophen betroffen sind. Das sehen wir inzwischen auch in Deutschland. Ärmere Menschen können sich weniger gut gegen die Auswirkungen des Klimawandels schützen als reichere Menschen. Insofern müssen wir dringend mehr für Klimagerechtigkeit tun.
„Dass ausgerechnet Politiker der Parteien mit dem "C" im Namen dieses Spiel spielen, ärgert mich maßlos.“
Frage: Welche konkreten Klimaschutzmaßnamen fordert die Caritas?
Neher: Wir fordern zum einen eine deutlich höhere CO2-Bepreisung. Die müsste, wenn sie tatsächlich eine Wirkung entfalten soll, bis 2030 auf 180 Euro pro Tonne ansteigen. Wenn man diesen Wert tatsächlich anpeilen will, müssen die Menschen – insbesondere Transferempfänger und Geringverdiener – allerdings zwingend über ein sogenanntes Klimageld entlastet werden. Das wäre auch deshalb gerecht, weil ärmere Menschen durch ihren Lebensstil deutlich weniger zur Klimakrise beitragen als wohlhabendere Menschen. Darüber hinaus setzen wir uns für einen konsequenten Abbau klimaschädlicher Subventionen ein. Nehmen Sie etwa das sogenannte Dienstwagenprivileg oder die Subventionierung von Flugbenzin, die beide völlig aus der Zeit gefallen und heute nicht mehr zu rechtfertigen sind. Wenn man diese Subventionen abbauen würde, könnte man mit den frei werdenden Mitteln den Ausbau einer klimafreundlichen Infrastruktur vorantreiben sowie ärmeren Menschen die kostenlose Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs ermöglichen.
Frage: Blicken wir auf die aktuelle Entwicklung in Afghanistan und die möglichen Folgen für Deutschland. Von Unionspolitikern wurde angesichts möglicher Flüchtlingsbewegungen zuletzt vor allem betont, dass sich "2015" nicht wiederholen dürfe. Wie beurteilen Sie diese Aussage ausgerechnet von Politikern einer christlichen Partei?
Neher: Ich finde diese Aussage aus mehreren Gründen völlig unverantwortlich. Zum einen ist die aktuelle Situation mit der Situation des Jahres 2015 überhaupt nicht zu vergleichen. Damals waren die Flüchtlingslager in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei völlig überfüllt. Hinzu kam, dass das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen aufgrund fehlender Hilfsgelder nicht in der Lage war, die Menschen adäquat zu versorgen und sich die Betroffenen auch deshalb auf den Weg Richtung Europa gemacht haben. Das alles ist heute – jedenfalls bislang – nicht der Fall. Zum anderen hat ein großer Teil der Flüchtlinge, die 2015 zu uns gekommen und geblieben sind, inzwischen sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten; diese Menschen tragen mit ihrer Arbeit und ihrem Einkommen zur Finanzierung unseres Sozialstaats bei. Und sie bereichern unsere Gesellschaft, als Nachbarn und Mitbürger. Noch ein letztes: Mich regt die Warnung vor "2015" auch deshalb auf, weil sie Ängste schürt und den Populisten in die Karten spielt. Dass ausgerechnet Politiker der Parteien mit dem "C" im Namen dieses Spiel spielen, ärgert mich maßlos.
Frage: Was sollte Deutschland tun, um sich – anders als es bei der weitgehend gescheiterten Evakuierung der Ortskräfte der Fall war – frühzeitig auf mögliche Flüchtlingsbewegungen aus Afghanistan vorzubereiten?
Neher: Priorität sollte zunächst die weitere Evakuierung der Ortskräfte und anderer besonders schützenswerter Personen haben. Immerhin haben wir diesen Menschen und ihren Familien entsprechende Versprechungen gemacht, die wir aus Anstand und mit Blick auf unser Ansehen in der Welt unbedingt halten sollten. Darüber hinaus sollten wir die Nachbarländer Afghanistans – allen voran Pakistan und den Iran – bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen aus dem Land unterstützen, damit die Betroffenen dort gut versorgt werden können und eine Rückkehrperspektive behalten. Das Leben in Flüchtlingslagern ist keine dauerhafte Perspektive.
Frage: Blicken wir auf den Caritasverband. Als großer Arbeitgeber steht die Caritas immer wieder auch selbst im Fokus der Öffentlichkeit. Zuletzt hat vor allem die Ablehnung des Flächentarifvertrags in der Altenpflege durch die Caritas für Aufregung gesorgt. Welche Perspektive sehen Sie bei diesem Thema?
Neher: Damit ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden kann, kann er immer nur Mindeststandards enthalten. Das war auch in diesem Fall so. Konkret ging es um einen Tarifvertrag, der zwischen Verdi und einem kleinen Arbeitgeberverband abgeschlossen worden war und der in keiner Weise das widerspiegelte, was Pflegekräfte verdienen sollten. Pflegekräfte verdienen keinen Mindeststandard, sondern eine angemessene Entlohnung und angemessene Rahmenbedingungen. Insofern denke ich, dass uns mit der jüngst beschlossenen Pflegereform, die eine Tarifbindung für Pflegekräfte festlegt, mehr geholfen ist. Ich erwarte zudem eine deutliche Erhöhung des Pflegemindestlohns durch die Pflegekommission. Allein durch die Beschlüsse der Pflegekommission ist die Bezahlung der Pflegekräfte in den vergangenen Jahren bereits kräftig gestiegen. Die Caritas braucht sich in dieser Hinsicht übrigens nicht zu verstecken, unser Tarif für Pflegekräfte hat ein deutlich höheres Niveau als der vieler Mitbewerber.
Frage: Dann muss es Sie ja umso mehr ärgern, dass Sie im Zusammenhang mit der Ablehnung des Flächentarifvertrags so viel schlechte Presse bekommen haben ...
Neher: Natürlich ärgert mich das. Es ist uns in der gesamten Auseinandersetzung leider nicht gelungen, auch nur annährend deutlich zu machen, dass wir diejenigen sind, die für eine adäquate Entlohnung von Pflegekräften kämpfen. Und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrags, der nur Mindeststandards enthält, ist eben nicht der einzige und schon gar nicht der beste Weg hin zu besseren Löhnen. Dass wir das in der Öffentlichkeit nicht vermitteln konnten, dafür übernehme ich die Verantwortung. Ich hoffe, dass wir auf ähnliche Auseinandersetzungen in Zukunft besser vorbereitet sind.
Frage: Ihr Verband trägt die Nächstenliebe im Namen. Aber ist in einem Sozialsystem, das weit überwiegend marktwirtschaftlichen Prinzipien unterworfenen ist, überhaupt Platz für eine von Nächstenliebe geprägte Fürsorge?
Neher: Keine Frage: Dieser Spagat existiert und ist unser tägliches Brot. Denn während die Nöte von Menschen immer grenzenlos sind, sind die Hilfsmöglichkeiten immer begrenzt. Insofern: Solange wir noch nicht im Reich Gottes angekommen sind, werden wir mit diesem Spagat leben müssen. Das Entscheidende ist aber ohnehin die innere Haltung und Motivation unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie und wir alle in der Caritas haben jeden Tag die Aufgabe, Menschenfreundlichkeit und Barmherzigkeit zu leben – und deutlich zu machen, worum es immer gehen muss: um den Menschen.