Das "künstlich gemachte Thier": Wie eine Orgel funktioniert
Der berühmte Barockkomponist Michael Praetorius beschreibt sie als "ein künstlich gemachtes Thier, welches durch Hülff der Luft und Mänschlicher Hände gleichsam rede, klinge, singe". Mit "mercklichen großen Unkosten in die Kirchen gesetzt", sei sie "verlobet und versprochen, die unaussprechliche Werck und Thaten der Göttlichen Majestet ohne Unterlaß zu rühmen und zu preisen". Die Rede ist natürlich von der Orgel.
Wie kein anderes Instrument steht sie für die Musik im Gottesdienst – ja für den Klang des Sakralen überhaupt. Schon jedes Kind zeigt sich von ihrem majestätischen Äußeren beeindruckt und ordnet die charakteristische Tonfülle intuitiv dem religiösen Kontext zu. Die Landesmusikräte haben die Orgel zum "Instrument des Jahres" 2021 gekürt und bereits zum elften Mal ehrt sie an diesem Septemberwochenende der "Tag der Orgel" deutschlandweit mit zahlreichen Führungen und Konzerten.
Als die Orgel im 3. Jahrhundert vor Christus erfunden wurde, war sie zunächst ein rein weltliches Instrument und hatte nur wenig mit den monumentalen Klangwundern zu tun, die wir heute kennen. Eine Eigenschaft zeichnete aber bereits die antike Urorgel aus, die sich bis heute durchgehalten hat und die Orgel von allen anderen akustischen Instrumenten unterscheidet: Sie kann einen ununterbrochenen und theoretisch ewig klingenden Ton produzieren.
Während jeder Geiger oder Cellist nach einiger Zeit seinen Bogen neu ansetzen, jede Trompeten- oder Flötenspielerin regelmäßig Luft holen und damit den Klang kurz unterbrechen muss, geht der Orgel die Luft nie aus. Solange man eine Taste drückt, erklingt ein gleichmäßiger, nicht abreißender Ton. Vermutlich auch wegen dieser Fähigkeit fand die Orgel ab dem Frühmittelalter nach und nach Einzug in den christlichen Gottesdienst – als Anspielung auf die göttliche Ewigkeit und das nicht endende Konzert der Engel.
Möglich wurde dieser quasigöttliche Daueratem, indem man die musizierende Person und das klangerzeugende Instrument voneinander trennte und eine mechanische Apparatur dazwischen baute: Beim antiken "hydraulos" (griechisch: Wasserpfeife) wurde vermutlich mit Blasebälgen Luft in einen abgeschlossenen Wasserbehälter geleitet, der die Luftstöße ausglich und so einen gleichmäßigen Strom in die klingenden Pfeifen leitete. Im klassischen Orgelbau wurde diese Technik durch aufwändig gefaltete Magazinbälge ersetzt, die ihrerseits für einen konstanten Luftdruck unter den Pfeifen sorgen.
Die Faszination des "künstlich gemachten Thiers"
Nachdem die Musik mit der Erfindung der Orgel einmal den Schritt in die Welt der Mechanik gemacht hatte, entwickelte sich diese Klangmaschine stetig weiter und eröffnete immer neue Gestaltungsmöglichkeiten. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als Praetorius seine Hommage an die Orgel schrieb, war das Instrument die komplizierteste Maschine, die der Mensch zu bauen im Stande war. Mit Hilfe ausgeklügelter Mechanik konnte bereits damals eine klangliche Vielfalt erzeugt werden, die dem modernen Orgelbau musikalisch kaum nachstand. Seine Faszination bringt Praetorius durch das Bild des künstlich gemachten Tieres zum Ausdruck: Obwohl vom Menschen gebaut, glänzt die Orgel mit quasiorganischer Perfektion – jedes Teil hat seine Bestimmung und erfüllt eine unverzichtbare Aufgabe für den Zusammenklang der verschiedenen Stimmen.
Aus Sicht der Instrumentenkunde ist die Orgel ein Zwitterwesen aus Blas- und Tasteninstrument. Schließlich wird der Klang durch luftbetriebene Pfeifen erzeugt, das Instrument aber mittels Hand- und Fußklaviaturen gespielt. Damit eine Orgel erklingen kann, braucht es deshalb im Wesentlichen drei Komponenten: die Winderzeugung, das Pfeifenwerk und eine Spielmechanik, die beides miteinander verbindet.
Die Windanlage – die "Lunge" der Orgel
Die wichtigste Eigenschaft des Winds, wie der Luftstrom in der Orgel genannt wird, wurde bereits genannt: Er muss konstant fließen. Dafür sorgen bis heute Magazinbälge, die den eingeleiteten Wind in großen auffaltbaren Behältern speichern und durch eine Gewichtsteuerung mit gleichbleibendem Druck weiterleiten. "Geschöpft" wurde der Wind über Jahrhunderte ausschließlich mit Muskelkraft. Um die Windversorgung einer mittelgroßen Orgel sicherzustellen, mussten in der Regel bereits mehrere kräftige Personen die mannshohen Blasebälge aufziehen und mit ihrem gesamten Körpergewicht gleichmäßig wieder herunterdrücken.
Das bedeutete vor allem eins: Bevor der Organist zu spielen beginnen konnte, mussten die Balgtreter zunächst alle Bälge mit Luft füllen. An älteren Orgeln findet man neben den Registern manchmal noch einen kleinen Hebel mit der Aufschrift "Calcant", so hieß der Balgtreter auf Lateinisch. Zieht der Organist daran, läutet hinter der Orgel ein kleines Glöckchen – das Zeichen für die Calcanten, kräftig in die Bälge zu treten und zwar umso schneller, je mehr Register gezogen wurden. Allein Orgelspielen war also überhaupt nicht möglich. Geübt wurde deshalb meistens zuhause am Klavier oder kleinsten Hausorgeln.
Das änderte sich erst mit der Erfindung des Elektromotors gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Seitdem wird der Orgelwind durch elektrische Gebläse produziert, teils meterhohe Ventilatoren, die mit großen Schaufeln Luft in die Magazinbälge schleudern. Von dort wird der Wind in breiten Kanälen oder Schläuchen bis unter die Pfeifen geleitet. Nur an ganz wenigen historischen Orgeln hat sich heute noch eine handbetriebene Windanlage erhalten. Und auch dort ist ihr meist ein elektrisches Gebläse nebenan gestellt. Die Bälge werden fast nur noch zu Vorführzwecken getreten – zu groß ist der Komfort, auf Knopfdruck losspielen zu können.
Das mechanische Herzstück der Orgel ist die Windlade, in ihr wird der Luftstrom auf die einzelnen Pfeifen verteilt. Jede Pfeife einer Orgel muss einzeln angesteuert werden können, denn anders als bei einer Flöte, die durch Öffnen oder Schließen der Grifflöcher ihre Tonhöhe verändern kann, produziert jede Orgelpfeife nur einen dauerhaft festgelegten Ton. Damit kein heilloser Missklang entsteht, wenn der Wind auf die unterschiedlich gestimmten Pfeifen trifft, müssen diese durch Ventile abgesperrt werden können. Das geschieht in der Windlade, die man sich wie eine riesige Schublade mit unzähligen Unterteilungen vorstellen kann: Alle Pfeifen mit der gleichen Tonhöhe stehen auf einer länglichen Kammer, Kanzelle genannt. Jede Kanzelle besitzt ein eigenes mit feinem Leder abgedichtetes Ventil. Wird dieses geöffnet, strömt Wind in die Kanzelle und die Pfeifen des entsprechenden Tons erklingen.
Die Traktur – das "Nervensystem" der Orgel
Aufgrund der Vielzahl ihrer Pfeifen nimmt schon eine durchschnittlich große Orgel einen enormen Platz ein. Zu viel Platz jedenfalls, als dass die musizierende Person direkt am Standort der Pfeifen das jeweilige Ventil öffnen könnte, um sie erklingen zu lassen. Es ist eine der maßgeblichen Eigenschaften einer Orgel, dass sie die körperlichen Fähigkeiten einer Person weit übersteigt. Man bräuchte bei einem gewöhnlichen Tonumfang von viereinhalb Oktaven, was 56 Einzeltönen entspricht, entweder genauso viele Menschen, die die Ventile bedienen – die Besetzung eines kleinen Orchesters. Oder man erfindet eine Mechanik, die es einer einzigen Person erlaubt, alle Ventile zentral zu steuern: das künstlich gemachte Tier.
Die Schaltzentrale der Orgel ist der Spieltisch, der meist aus mehreren Klaviaturen für die Hände – Manuale genannt – und einer Klaviatur für die Füße, dem Pedal besteht. Von jeder einzelnen Taste, egal ob sie mit der Hand oder mit den Füßen gespielt wird, führt eine mechanische Verbindung quer durch das Orgelgehäuse bis zu dem zugehörigen Ventil. Diese Verbindung nennt sich Traktur, vom lateinischen "tractare" (bedienen). Im klassischen Orgelbau besteht die Traktur aus hauchdünnen Holzspänen, die über viele Meter hinweg vertikal und horizontal gespannt sind und mittels feiner Kipphebel den Tastendruck an die Pfeifenventilen weiterleiten.
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Noch bis in den Spätbarock befand sich der Spieltisch meist direkt unter der Windlade, um möglichst kurze Trakturwege zu ermöglichen. Später wurde er jedoch immer häufiger vom Orgelgehäuse abgelöst und freistehend gebaut. Dadurch erhielt der Organist einen besseren Klangeindruck von seinem eigenen Spiel und es entstand zudem Platz für einen Chor oder ein Orchester, das vom Spieltisch aus dirigiert werden kann. Gleichzeitig wurden auf der Suche nach mehr Klangvielfalt die Orgeln mit der Zeit immer größer – und mit ihnen auch die Trakturwege und die mechanische Reibung.
Weil der steigende Tastendruck ein virtuoses Orgelspiel zunehmend erschwerte, suchte man lange nach Alternativen zur mechanischen Traktur. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich dafür zunächst die pneumatische Traktur, bei der der Tastenimpuls durch dünne Luftröhrchen weitergeleitet wird. Diese war jedoch sehr störungsanfällig und führte außerdem zu einer verzögerten Öffnung der Ventile. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich deshalb die elektro-magnetische Traktur durch, bei der ein Sensor an der Taste einen Stromimpuls auslöst und ein kleiner Elektro-Magnet schließlich das Ventil öffnet. Diese Funktionsweise wurde bis heute weiterentwickelt, sodass große Orgelneubauten meist digital angesteuert werden können, was eine effektreiche Verteilung verschiedener Orgelteile im Kirchenraum erlaubt. Trotz all dieser Innovation schätzen viele Organisten aber weiterhin die mechanische Traktur, weil man mit ihr den unmittelbarsten Kontakt zur Klangerzeugung hat.
Das Pfeifenwerk – Stimmenvielfalt wie in einem Orchester
Die Orgel ist ein wahres Klangwunder: Als einziges akustisches Instrument umfasst sie den gesamten Hörumfang des Menschen – vom tiefsten, mehr spür- als hörbaren Wummern bis zum höchsten, fast in den Ultraschallbereich reichenden Pfeifen. Aber auch in ihrer Klangvielfalt wird die Orgel von keinem anderen Instrument übertroffen und gleicht, obwohl von nur einer Person gespielt, eher einem ganzen Orchester als einem Soloinstrument.
Die unterschiedlichen Klangfarben sind durch die Bauform der Pfeifen bedingt. Man unterscheidet im Orgelbau zwei Grundtypen: Labialpfeifen und Lingualpfeifen. Der größte Teil der Pfeifen einer Orgel sind Labialpfeifen. Ihr Namen leitet sich vom lateinischen "labium" (Lippe) ab und sie funktionieren wie eine Blockflöte: An einem Schlitz, dem Labium, wird der durchströmende Luftstrom geteilt und bringt dabei die Luft, die sich in der Pfeifenröhre befindet in Schwingung. Die Tonhöhe ergibt sich durch die Länge der schwingenden Luftsäule – sprich: je länger die Pfeife, umso tiefer der Ton. Dadurch entsteht die charakteristische Treppenoptik, aufgereiht "wie die Orgelpfeifen".
Der Grundtyp der Labialpfeifen sind die sogenannten Prinzipale, die Grundstimmen der Orgel. Sie produzieren den typisch vollen Orgelklang und prägen mit ihrer silbrig glänzenden Zinnlegierung auch das optische Bild der majestätischen Instrumente. Hinter der Schaufront der Orgel, dem Prospekt, geht es aber erst richtig los: Im Gehäuse verbergen sich unzählige weitere Pfeifengattungen, sodass in einer Orgel in der Summe mehrere tausend Einzelpfeifen zusammenkommen. Durch kleine bauliche Unterschiede entsteht die schier unerschöpfliche Klangvielfalt. So gibt es auch Labialpfeifen aus Holz, die einen wärmeren und runderen Ton erzeugen als ihre metallenen Schwestern und eher an Flöten erinnern. Manche Pfeifen bekommen einen Deckel und klingen dadurch dumpfer und tiefer oder werden sehr schmal gebaut, wodurch ihr Klang stark dem eines Streichinstruments ähnelt.
Die zweite Hauptgruppe der Pfeifen bilden die Lingualpfeifen. Sie haben ihren Namen vom lateinischen "lingua" (Zunge), denn sie erzeugen ihren Ton durch eine kleine Metallzunge, die durch den Luftstrom in Schwingung versetzt wird, ähnlich wie bei einer kleinen Partytröte. Die Zungenstimmen in einer Orgel haben einen schmetternden Klang und erinnern je nach Ausführung ihrer Schalltrichter mal mehr an eine Trompete oder Posaune, mal an eine schnarrende Oboe oder ein Fagott.
Alle Pfeifen jeweils einer Bauart und damit einer Klangfarbe werden Register genannt. Sie erfüllen in der Orgel die gleiche Funktion wie ein einzelnes Instrument im Orchester und müssen deshalb vom Organisten auch einzeln angesteuert werden können. Die Spieltraktur war deshalb nur die halbe Miete des technischen Apparats einer Orgel: Ihre ganze Klangvielfalt kann sie erst durch die Registertraktur ausüben. Mit ihrer Hilfe kann der Musiker einzelne Stimmen an- oder abstellen, kann unterschiedliche Stimmen mischen, laute und leise Klänge produzieren. Nur durch die Registertraktur lässt sich das schier unermessliche Klangpotential einer Orgel steuern und unterschiedliche musikalische Stimmungen erzeugen. Je nach Kombination der Register klingt eine Orgel mal feierlich triumphal, mal klagend oder emotional anrührend. Dabei ist keine Orgel wie die andere, jede ist ein Unikat mit einer ganz eigenen Klangpalette.
Alle Pfeifen, die aufgrund ihrer Bauart zu einem Register gehören, stehen nebeneinander in einer Reihe. Damit der Organist oder die Organistin nun frei wählen kann, ob sie entweder den Prinzipal oder die Trompete spielen will oder aber beide gleichzeitig, verlaufen in der Windlade quer zu den Kanzellen lange Lochbänder. Diese sogenannten Schleifen verlaufen direkt unter den Pfeifen und können leicht hin- und hergeschoben werden: Liegen die Löcher in Deckung mit den Pfeifeneingängen, so erklingt das darüberliegende Register beim Spielen. Sind die versetzt dazu, bleibt es stumm. Wie die Ventile hat auch jede Registerschleife eine direkte mechanische Verbindung zum Spieltisch. Dort befinden sich meist kunstvolle Zugknöpfe, auf denen der Name des Registers steht und mit denen man die einzelnen Stimmen ein- und ausschalten kann. Oder aber man zieht sprichwörtlich "alle Register".
Linktipp
Anlässlich der Wahl der Orgel zum "Instrument des Jahres" 2021 gibt das Kirchenmusikreferat Passau in einer Youtube-Reihe Einblicke in die Geschichte des Orgelbaus und stellt ausgewählte Instrumente vor.