Macht in der Kirche kann nur durch Vollmacht Christi begründet werden
Nachdem am 3. September die Seite www.synodale-beitraege.de online gegangen war, gab es sogleich einige scharfe Reaktionen. Man fragt sich freilich, woher manche Kritiker des Alternativ-Textes "Vollmacht und Verantwortung" (im Folgenden "VuV") die Zeit nahmen, den Text gründlich genug zu lesen. Manche sprachliche Entgleisungen kann man dem ersten Pulverdampf zurechnen und möchte sie nicht überbewerten – was, bitte, soll es heißen, dass "VuV" die Deutungshoheit beim "herrschenden System" lassen wolle? Die Verfassung der Kirche? Die Bischöfe? Die kirchliche Lehre oder das Kirchenrecht? Aber einige der erhobenen Anschuldigungen können nicht unbeantwortet stehenbleiben; dabei sei auch ein Blick auf den Grundlagentext des Forum 1 "Macht, Partizipation, Gewaltenteilung" (im Folgenden "MPG") gestattet.
Nirgends wirft "VuV" anderen Entwürfen oder gar deren Verfassern vor, "nicht katholisch" zu sein. Und dass Probleme des Missbrauchs oder der abnehmenden Kirchenbindung auch (!) von Katholiken hier "kleingeredet" würden, kann bei unbefangener Lektüre des Textes niemand behaupten – im Gegenteil konstatiert der Text, dass schlimme Fehler gemacht wurden und immer noch werden (Teil III n.2), und die Aufarbeitung längst nicht abgeschlossen sei (II n.15).
Die Text-Vorlage des Forum 1 "MPG" legt die Erwartung nahe, dass die dort vorgeschlagenen tiefgreifenden Umstrukturierungen im Hinblick auf eine "Verheutigung" der Kirche den Exodus stoppen würden: durch Anpassung der Kirchen-Verfassung an "demokratische Standards", durch "Geschlechtergerechtigkeit" in der Besetzung auch derjenigen Ämter, welche das Weihesakrament voraussetzen, und die Änderung ihrer Lehre vor allem im Bereich der Sexualmoral.
Nicht nur ein "katholisches" Problem
Mit welcher Sicherheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit ist dies zu erwarten? Da gewaltvolle Sexualität oder Machtmissbrauch offenkundig nicht nur ein "katholisches" Problem sind, muss zumindest die Frage erlaubt sein, ob das Drehen an der Stellschraube der katholischen Kirchenverfassung ("unilaterales Leitungsprinzip" versus "Gewaltenteilung") ein nachhaltig erfolgversprechendes Rezept ist.
"VuV" schlägt dagegen moderate strukturelle Reformen vor (Teil III), die auf der Grundlage des geltenden Kirchenrechts und des vom II. Vaticanum erneuerten Kirchenverständnisses sofort umgesetzt oder mit neuem Nachdruck implementiert werden können. Und bekennt sich zu der Überzeugung, dass Strukturveränderungen ohne Umkehr aller Stände der Kirche im Sand verlaufen.
Wie weitreichend umgekehrt die Änderungen nach dem Willen von Forum 1 sein sollen, lassen einige der "Handlungstexte" erkennen, die der kommenden Synodalversammlung vorgelegt werden. Diese basieren auf dem Grundtext MPG und verdeutlichen dadurch dessen Zielrichtung, wie die Frucht den Baum erkennen lässt. Dies gilt vor allem für den Vorschlag der Perpetuierung des Synodalen Prozesses durch die Errichtung eines nationalen Synodalen Rates, der nicht nur beratend, sondern mitentscheidend und als Kontroll-Instanz tätig wird; ebenso sollen in jeder Diözese ähnliche Räte gewählt werden (doch wo gibt es so etwas, dass ein gewählter Rat seine Mitgliederzahl durch Kooptierung erhöhen – und damit Mehrheiten ausbauen – kann?). Mit keinem Wort wird erwähnt, wie dieses und weitere Gremien für ihre Arbeit bezahlt werden. Aber das ist wohl nicht so wichtig, da zu den geforderten Mitentscheidungsrechten auch die Finanzen gehören.
"Selbstbindung" der Bischöfe
Noch einschneidender ist die Forderung, Bischöfe sollten eine "Selbstbindung" eingehen, in der sie zusagen, Mehrheitsentscheidungen ihres Rates beizustimmen. Dazu wäre vieles zu sagen. Hat man sich den Bischof als einen "Machthaber" in einer Diözese vorzustellen, der nach Belieben davon abgeben kann (was ihn vielleicht auch reuen könnte, wie weiland King Lear), oder ist er in erster Linie aufgrund seiner sakramentalen Weihe dem Collegium episcoporum und der Communio mit diesem verpflichtet? Wird der Bischof in Zukunft die Kandidaten bei der Priesterweihe fragen: "Versprichst du mir und meinem Nachfolger und meinen Gremien Ehrfurcht und Gehorsam?"
Dagegen wurde dem Text "VuV" vorgeworfen, das II. Vaticanum "klerikalistisch" zu interpretieren. Jeder und jede, die VuV und MPG lesen und auf die Breite der Quellen vergleichen, mögen sich selbst ein Urteil bilden. Keineswegs werden in diesem Text die Geistesgaben der Gläubigen "nur mit päpstlichen Lehrtexten aus der Zeit von Johannes Paul II" dargestellt – "Gemeinsam Kirche sein" ist immerhin ein recht junger Text der DBK.
Aber dass die Frage, wann ein Charisma "authentisch" ist, Unterscheidung verlangt ("Prüft die Geister"), und dass die Charismen auch der "Ordnung" bedürfen, um für die Mitchristen fruchtbar zu werden, das ist seit Paulus bekannt (1 Kor), der im übrigen nicht nur einmal unmissverständlich seine apostolische Autorität geltend machte. Die Notwendigkeit der Unterscheidung spielt in den neutestamentlichen Schriften eine große Rolle, und die Kirchengeschichte liefert auch einige Lehrstücke dazu. Es ist wenig überraschend, dass in LG 7 erklärt wird, dass "der Hl. Geist selber die Charismatiker der Autorität der Apostel unterstellt (subdit)", deren Amt im übrigen selbst eine Gabe desselben Geistes ist.
"Zeichen der Zeit" und "Glaubenssinn der Gläubigen"
Ähnliches könnte man für die Deutung der "Zeichen der Zeit" oder den "Glaubenssinn der Gläubigen" sagen, die in "MPG" nahezu naiv ins Feld geführt werden. Wie gut muss man das Evangelium kennen, um Phänomene oder Situationen als Zeichen (für etwas Nicht-Sichtbares!) erkennen und beurteilen zu können? Und wie kann der "sensus fidei fidelium" als authentischer Ausdruck des Glaubens festgestellt werden, im Unterschied zu einer eben auch möglichen Verblendung einer Mehrzahl (vgl. Gal 1)? Gibt es doch laut Newman's Analyse nicht nur eine "Glaubensentwicklung", sondern auch die Gefahr der Degenerierung. Da wird es keinen anderen Weg geben als das Kriterium der Kontinuität zum Glauben der universalen Kirche, synchron und diachron verstanden. Dies festzustellen, ist nicht die Aufgabe von Gremien oder Gruppen und deren Mehrheit, nicht einmal von Professoren und Professorinnen der Theologie. Es fällt in die Verantwortung derer, die als Nachfolger der Apostel die Pflicht übernommen haben, für die unverfälschte Weitergabe des Glaubens zu sorgen. Sie sind dringend aufgefordert, sich beraten zu lassen, aber die letzte Verantwortung kann nicht outgesourced werden.
In dieser und damit verbundenen Fragen zeigt sich einer der Mängel von "MPG": Es scheint, als sei der "Geist der Gaben" (Charismen) nicht so recht mit dem "Geist Christi" (apostolisches Amt) verbunden. Die Spannungseinheit von Pneumatologie und Christologie ist aber wesentlich für das katholische Verständnis der Kirche als Volk Gottes, als Leib Christi und Tempel des Hl. Geistes – ebenso wie für das Verständnis von Offenbarung und ihrer Weitergabe durch die Geschichte. Dass diese Zusammengehörigkeit fragil ist, sieht man in der Kirchengeschichte immer wieder (Montanismus, Joachitismus).
VuV geht im Unterschied zu MPG klar von der Prämisse aus, dass die Kirche eine realitas complexa ist (SC n.2 – der erste vom II. Vaticanum verabschiedete Text), in dem die menschlich-sichtbare "gesellschaftliche" Seite und die unsichtbare vom trinitarischen Gott erfüllte Dimension ein nicht auseinanderdividierbares Ganzes bilden. Das hat Folgen für das Verständnis der "Heiligkeit der Kirche", die ihr von ihrem Herrn und Gründer her zukommt, und Folgen für ihre Struktur: In der Kirche gibt es "Macht", aber sie ist nur legitim, wenn sie Teilhabe an der Vollmacht Christi ist, das heißt wenn sie christologisch begründet ist.
Die Autorin
Marianne Schlosser ist Professorin für Theologie der Spiritualität in Wien.