Ein Gespräch mit Bischof Feige und dem Religionssoziologen Pickel

Ticken im Osten lebende Katholiken anders?

Veröffentlicht am 02.10.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Leipzig ‐ Die Kirche im Westen und Osten ist von Unterschieden geprägt, die sich nicht nur auf die wesentlich geringere Zahl von Christen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR beschränken. Im Interview erklären Bischof Feige und Soziologe Pickel, warum das so ist.

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In Ostdeutschland spielen katholische Reformbewegungen wie "Maria 2.0" kaum eine Rolle. Als im Mai eine bundesweite Initiative zu Segnungsgottesdiensten für homosexuelle Paare aufrief, wies die Online-Deutschlandkarte im Osten nur drei solcher Angebote aus, alle in Westberlin. Auch Laiengremien wie Katholikenräte treten in den ostdeutschen Bistümern, so scheint es zumindest, häufig nicht so selbstbewusst auf wie im Westen. Woran liegt das, was sind die Ursachen? Im Interview stellen sich der Magdeburger Bischof Gerhard Feige und der evangelische Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel dieser Frage.

Frage: Herr Bischof Feige, Herr Professor Pickel, das Interesse der Katholiken an innerkirchlichen Reformthemen scheint im Osten deutlich geringer als im Westen - sind sie konservativer?

Feige: Meiner Meinung nach stimmt das so nicht. Meine These ist: Sie sind schon kritisch, aber sie äußern das anders, oder sie äußern es nicht. Ich merke in Gesprächen schon, dass unsere Gläubigen diese Themen bewegen, aber sie drücken sich nicht in der Weise aus, wie das westlicherseits eher wahrnehmbar ist.

Frage: Warum ist das so?

Feige: Ich denke, dahinter steht unter anderem ein struktureller Grund: Wir sind eine sehr kleine Schar, mit drei Prozent Katholiken ist nicht viel Staat zu machen. Auch sind bei uns die Verbände und Vereine nicht so stark präsent. Viele Protestaktionen laufen ja darüber, und das greift bei uns einfach nicht.

Pickel: Die strukturelle und organisatorische Situation ist sicher ein Punkt, der es erschwert, sich zu organisieren. Man muss immer mitbedenken, dass die katholische Kirche in Ostdeutschland in einer doppelten Minderheiten-Position ist: Der Anteil der Christen hier ist gering, und davon sind auch nur ein kleiner Teil katholisch. In solch einer sehr tiefen Diaspora-Situation richtet man zuerst einmal das Augenmerk sehr stark nach innen. Wir sollten aber die katholischen Aktivitäten in Ostdeutschland auch nicht kleinreden.

Feige: Wir hatten im Bistum Magdeburg bereits von 2000 bis 2004 ein pastorales Zukunftsgespräch, an dem sehr viele Menschen beteiligt waren. Da kamen auch all die Reformthemen vor, die heute noch diskutiert werden. Die bewegten damals schon die Gemüter, aber da war die Meinung: Das lässt sich nur weltkirchlich lösen, da reiben wir uns jetzt nicht weiter auf. Uns ging es mehr um die Findung der eigenen Rolle in der Gesellschaft, und es war klar: Wir sind nicht mehr die Diaspora-Kirche der vergangenen Zeiten, die nur um sich selbst kreist, sondern es geht um unsere Sendung, und da muss etwas in die Welt strahlen. Heißt also: die Welt in den Blick nehmen und sich nicht innerkirchlich zerfleischen.

Pickel: Ich denke auch nicht, dass die ostdeutschen Katholiken die innerkirchlichen Probleme übersehen. Dafür lassen sich auch in unseren Studien keine Belege finden. Die halten Anpassungen an die Gegenwart in ähnlicher Weise für wichtig. Aber es ist in Ostdeutschland doch grundsätzlich schwieriger, das umzusetzen und sich zu beteiligen.

Frage: Wieso?

Pickel: Nehmen wir das Beispiel Homosexualität: Wir haben in Ostdeutschland, was solche Themen angeht, doch ein anderes Klima als in Westdeutschland. Das trifft nicht nur Katholiken, sondern es ist in Ostdeutschland insgesamt so, dass wir, was Vorurteilsstrukturen und die Auseinandersetzung damit angeht, leider in den vergangenen Jahren eine Entwicklung hatten, die sehr, sehr aggressiv ist. Ich wäre als normaler Kirchgänger bei einem Thema, wo ich das Risiko starker Auseinandersetzungen eingehe, etwa durch rechte Gruppen, dann auch zurückhaltender, mich öffentlich zu positionieren. Sich in bestimmte Listen einzutragen, bringt hier Schwierigkeiten mit sich, die über kirchliches Denken hinausgehen. Es macht durchaus Unterschiede, wo man sich engagiert.

Eine DDR-Fahne wird am Freitag (13.08.2010), dem 49. Jahrestag des Mauerbaus, vor dem Brandenburger Tor in Berlin gehalten
Bild: ©picture alliance / dpa / Rainer Jensen

In der DDR waren Christen großem Unrecht und Benachteiligung durch die Staatsführung ausgesetzt.

Frage: Diese Beobachtungen betreffen also nicht nur für den kirchlichen Sektor?

Pickel: Wenn wir auf andere Formen des öffentlichen Engagements schauen, etwa im politischen Bereich, dann liegt dort ebenfalls die Beteiligung in Ostdeutschland wesentlich unter der im Westen. Da gibt es unterschiedliche Erklärungsmomente, ich bin mir nie sicher, welcher richtig ist: Ob es mit Historie zu tun hat oder schlicht mit der gegenwärtigen Lage. Grundsätzlich ist aber zu sagen: Wir dürfen nicht überrascht sein, wenn es im kirchlichen Bereich in Ostdeutschland weniger öffentliche Äußerungen gibt.

Frage: Sie sagen, Herr Bischof, dass ein Ergebnis in Ihrem Bistum war, sich stärker zur Gesellschaft hin zu öffnen - das ist ja mit einem enormen Bewusstseinswandel verbunden. Inwieweit gelingt das denn tatsächlich schon?

Feige: Keine Frage, es ist ein langwieriger Prozess. Im Prinzip hat er mit der Wende begonnen. Das betrifft zum einen damals neu hinzugekommene Seelsorgebereiche, wie Justizvollzugsanstalten, Polizei oder Bundeswehr. Dann natürlich den Bildungsbereich, aber vor allem auch das große Feld der Caritas. Es ist natürlich kein Massenphänomen, wir fahren nicht mit einer positiven Walze durchs Land und beglücken alle. Aber ich freue mich über die Beispiele, wo es gelingt, und Kirche wieder als hilfreich und anregend wahrgenommen wird.

Pickel: Was man auch sehen muss: Kirchen bieten Gemeinschaft, und das ist in einem polarisierten gesellschaftlichen Umfeld wie hier sehr wichtig. Das führt mitunter dazu, dass man zugunsten der Gemeinschaft manches mitunter weniger gewichtet oder problematisiert, um nicht noch ein zusätzliches Feld der Auseinandersetzung aufzumachen. Was nicht heißt, dass man die Probleme nicht sieht.

Frage: Inwieweit wirken denn bei ostdeutsch sozialisierten Katholiken alte Prägungen noch nach? 

Feige: Aus DDR-Zeiten spielt sicher noch eine sehr positive Sicht auf Kirche mit rein, als Gemeinschaft, als ein Ort der Heimat. Das möchte man nicht beschädigen. Es war damals natürlich nicht alles positiv in der Kirche, es gab auch Auseinandersetzungen. Aber es war doch eher von einer gewissen Harmonie bestimmt. Und es war eben gegenüber Staat und Partei ein Ort, wo man menschlich miteinander umging. Anfang der 1990er-Jahre gab es eine Umfrage unter Jugendlichen, wie sie zur Kirche stehen. Während die Westdeutschen Kirche eher als Hort der Repression ansahen, schilderten die Ostdeutschen sie als einen Schutzraum für das Menschliche.

Pickel: Die Erfahrung, Kirche als Schutzraum erlebt zu haben, wirkt immer noch sehr stark nach. Im Osten gibt man seiner Kirche noch etwas mehr Kredit. Ich habe vor zwei Jahren eine Studie gemacht, die ergab: 50 Prozent der westdeutschen Katholiken finden ihre katholische Identität wichtig, in Ostdeutschland sind es etwa 65 Prozent. Das zeigt schon eine etwas stärkere Bindung.

Feige: Ich möchte aber auch mal betonen, dass es "die" ostdeutschen Katholiken in dem Sinne nicht mehr gibt. Die katholische Kirche im Osten lebt seit der Reformation vom Zuzug, und wieder gibt es eine zunehmende Durchmischung der Gemeinden. In unserem Bistum sind 13 Prozent unserer Katholiken Ausländer, die Hälfte davon Polen. Und genauso viele sind aus Westdeutschland zugezogen. Also 25 Prozent sind schon mal nicht mehr die klassischen DDR-Katholiken, und dann muss man auch noch die dazu zählen, die nach 1989 geboren wurden. 

Frage: Kommen wir noch einmal auf Ihre Studie zurück, Herr Professor Pickel: Wenn diese Untersuchung zeigte, dass den ostdeutschen Katholiken ihre katholische Identität so wichtig ist, müsste es sie dann nicht noch mehr treffen, wenn kirchliche Ansichten und ihre Lebenswirklichkeit mehr und mehr auseinanderfallen?

Pickel: Eine Identität bedeutet eine starke Bindung, und diese hat den Vorteil, dass sie relativ lange hält. Gläubige sind durchaus bereit, das ein oder andere zu ertragen. Aber die Akzeptanz lässt nach, und das ist eine beschleunigte Bewegung. Irgendwo muss die Kirche für mich einen Nutzen haben. Sie muss mein soziales Bedürfnis nach Vergemeinschaftung bedienen und/oder meine spirituelle Bedürfnisse.

Frage: Was passiert, wenn das nicht mehr greift?

Pickel: Es gibt eine Theorie aus den 1970er Jahren, die zwei Reaktionsformen auf ein Problem beschreibt: Exit und Voice. Voice bedeutet, ich versuche es zu verändern, aber laut und vernehmbar. Exit meint den Rückzug und die Apathie.

Feige: Bei Veränderungen kommt es ja auch immer auf die Methode an. Ich zum Beispiel bin allergisch gegen Protestaktionen. Das rührt aus den DDR-Zeiten her, wo das alles verordnet und staatlich angeordnet war, Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, all sowas. Solchen Formen kann ich bis heute nichts abgewinnen, das steckt immer noch so in mir. Mit Rasseln etwa auf die Straße gehen - ich finde das einfach komisch, aufgrund meiner Prägung.

Frage: Sie können Demos nichts abgewinnen? Aber es waren doch gerade die Montags-Demonstrationen 1989 in der DDR, die die Wende gebracht haben.

Feige: Das war etwas anderes, einmaliges. Das war eine ganz besondere Atmosphäre, ein zutiefst friedliches Bestreben. Was ich nicht mag und nicht für sinnvoll halte, ist aggressives Auftreten. Das führt nur zu Polarisierungen. Ich setze eher auf die argumentative Seite. Veränderungen müssen sein, ja. Aber das erreicht man doch eher über konstruktive Gespräche.

Von Karin Wollschläger und Joachim Heinz (KNA)