"Bete für mich": Franziskus, der Anti-Held
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Pfingstmontag 2021 hat Papst Franziskus zum ersten Mal seine Medienleute besucht. Das ist jetzt ein halbes Jahr her und auch im Abstand eine große Sache, weil es anders lief, als wir erwartet hatten. Typisch Franziskus, werden Sie sagen, und Sie haben recht, die Überraschung ist eine bewährte Methode dieses Papstes zur Annäherung an die Wahrheit. Was also hatten wir uns vorgestellt? Was kam stattdessen heraus? Und was haben wir dabei gelernt über den Papst und seinen Dienst an der Kirche?
Vorab dachten wir an etwas Nüchtern-Festliches. Wir freuten uns auf die Begegnung mit dem Chef, den wir ganz gut zu kennen glauben, weil wir seine Worte, Bilder und Gesten täglich mitverfolgen und medial verkochen. Wir erwarteten einen Papst, der uns als väterlicher Vorgesetzter für unsere Arbeit danken und anstacheln würde, mehr "an die Ränder zu gehen". Wir erwarteten Zugewandtheit, Inspiration, sanfte Ermahnung und dass er uns ein paar ernste, nicht von oben vorgefilterte Fragen beantworten würde, und für zwischendurch erwarteten wir die Würze eines launigen Wortes. Papst Franziskus hat diesen Mix drauf, er beweist es auf jeder Reise, wenn er seine Jesuitenmitbrüder trifft. (Dass wir angehalten sind, die Mitschriften dieser privaten Frank-und-Frei-Begegnungen aufzubereiten, erstaunt manche.)
"Immer Erlaubnis – das lähmt!"
Dann kam er, und man konnte gleich sehen: Oha, der Papst ist nicht zu Nettigkeiten aufgelegt. Wir sollten uns fragen, wer uns eigentlich hört oder liest, sagte er live auf unserem Lokalsender Radio Vaticana Italia und verglich uns mit dem "Berg, der eine Maus gebiert". Im Sitzungssaal war dann ein kleines Frage-Antwort-Pingpong geplant, stattdessen antwortete Franziskus frontal und streng auf eine einzige Frage, die freilich niemand gestellt hatte, er warnte vor Behördendenken und Kontrollwahn in den Vatikanmedien: "Immer Erlaubnis, Erlaubnis, Erlaubnis, das lähmt!" - Wie recht er hat! In allen Punkten. Für unsere Arbeit gedankt hat der Papst auch, aber das ging unter. Denn grosso modo war sein erster und sicher letzter Auftritt im vatikanischen Medienhaus atmosphärisch verpatzt und überraschend unväterlich. Wir hatten unseren Kurien-Weihnachtsansprachen-Moment. Und das am Pfingstmontag und obwohl niemand von uns Kardinal ist.
Aus dem Abstand von sechs Monaten zeigt sich für mich, wie der pfingstliche Geist eben doch gewirkt hat, wenn auch anders als wir dachten. Zum einen hat der rätselhafte Besuch vom Chef tatsächlich zu einer institutionellen Gewissenserforschung in Sachen Reichweite, medialer Selbstbezogenheit und zugestandener Kreativität geführt, in anderen Worten: Bestimmte heikle Inhalte zu Vorgängen in der Kirche können wir wieder in Eigenverantwortung berichten, ohne erst bang um Erlaubnis nachzusuchen (nur Meldungen zu China unterliegen bei den Vatikanmedien weiterhin strenger Kontrolle, und wer weiß, was auf dem Spiel steht, kann das für zulässig halten). Noch wichtiger scheint mir: Franziskus hat uns mit der Pfingstmontags-Begegnung von einem Papstbild befreit, das wir uns gerne von ihm gemacht haben. Er hat uns ent-täuscht. Die Täuschung ist weg, wir sehen klarer. Wir nähern uns der Wahrheit.
Franziskus ist ein vielschichtiger Papst. Einer, der dazu bestimmt ist, Kirche und Gläubige durch den Beginn einer Zeitenwende zu führen und gerade deshalb keine Verknöcherung duldet, keinen Rückzug in die reine Lehre. Ein Papst mit innerer Freiheit, lockerer Zunge, persönlicher Frömmigkeit und geistlicher Strahlkraft weit über die Kirche hinaus. Einer, der über die Botschaft Jesu so bildreich spricht wie Jesus selbst, aber so heutig, dass alle verstehen, die wollen. Einer, der und den auch die Welt nicht kaltlässt: ein politisch wacher Papst, der ungewöhnliche Verbündete sucht in Erfüllung des christlichen Auftrags, Frieden zu stiften, Hungernde zu ernähren und die Schöpfung zu retten, kurz, das Leben zu schützen im großen Stil. Sein Herz schlägt eher nicht für die Kurie, manches an seiner Amtsführung wirkt unkoordiniert und aktionistisch, auch Fehlentscheidungen mögen ihm unterlaufen. Dennoch zögere ich nicht, Franziskus einen bedeutenden Papst zu nennen. Was er aber nicht ist: ein Held. Ein Heiliger. Dabei haben wir ausgerechnet die in der katholischen Kirche so gerne!
Franziskus kann leutselig auftreten, inspirierend und großherzig, aber auch barsch und etwas unberechenbar. Beide Seiten seiner Persönlichkeit sind echt. Mich stört, dass je nach Grad der Zustimmung zu seiner Amtsführung die eine oder die andere Seite absolut gesetzt wird, um quasi vom Charakter des Papstes her das ganze Pontifikat aufzurollen, es überhöhend oder verunglimpfend. Heiligenschein-Effekt, ausgerechnet, nennt das die Psychologie, andersherum Teufelshorn-Effekt: Ein einzelnes, markantes Merkmal meines Gegenübers färbt in meinem Urteil alles, was ich über diese Person nicht genau weiß, ihr aber unbewusst zuschreiben will. Die Folge ist ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit.
Der Papst wusste: Die "Francescomania" verdunstet
Franziskus selbst kennt seine Defizite. Als ich ihm zum ersten Mal persönlich begegnete, das Pontifikat war noch in erster Blüte, sagte ich ihm spontan, wie sehr ich mich freute, für ihn zu arbeiten. "Bete für mich", antwortete Franziskus mit dem Satz, den er in achteinhalb Jahren am öftesten ausgesprochen hat. Der Pfingstmontag hat mich diese Gebetsbitte neu verstehen lassen, und zwar als Selbstaussage. "Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat", so stellte sich Franziskus zu Beginn seines allerersten Interviews als Papst vor. In dieser Perspektive überrascht auch nicht, wie scharf er auf die sympathisch-harmlosen Papst-Graffiti reagierte, die über Jahre hie und da auf römischen Hauswänden aufpoppten, das berühmteste zeigte Franziskus als kraftvoll anfliegenden Superman, siegesgewiss lächelnd. "In jeder Idealisierung steckt eine Aggression", kommentierte der Papst mit Verweis auf Sigmund Freud. Ihn als Superhelden darzustellen, das komme ihm beleidigend vor. Überhaupt sah er voraus, dass die "Francescomania", die Begeisterung, die ihm in den ersten Jahren des Pontifikats entgegenflog, bald verdunsten würde; ob aufgrund seines Charakters oder seine Entscheidungen, ließ er offen, als er diese Überlegungen einem Kardinal anvertraute, der sie weitergab.
Was also tun, um diesem Papst gerecht zu werden? Ein liebevoller Blick auf den bald 85-jährigen, nach Rom verpflanzten Bischofs-Senior, der eine Weltkirche zu leiten hat, schadet nie. Der Pfingstmontag hat mich aber noch etwas gelehrt: Das Auftreten des konkreten Amtsinhabers ist eine überschätzte Variable in der Papstbetrachtung. Auch ein fehlerhafter Mensch kann ein guter Papst sein, darin zeigt sich Gottes Größe. Und ein Drittes: Wenn Franziskus-Vorgänger Benedikt XVI. mit seinem Rücktritt das Papstamt aus einer sakralisierenden Überhöhung gelöst und klargestellt hat, dass das Amt dem Inhaber nicht untrennbar "anwächst", dann hat das den Boden bereitet für eine ehrliche und zugleich nachsichtige Einschätzung der Person Papst.
Kolumne "Römische Notizen"
In der Kolumne "Römische Notizen" berichtet die "Vatikan News"-Redakteurin Gudrun Sailer aus ihrem Alltag in Rom und dem Vatikan.