Politologe zur Union: Vertrauen durch Stärkung des "C" zurückgewinnen
Das Wahldesaster der Union führt der Luzerner Politologe Antonius Liedhegener vor allem auf den inneren Zustand der Partei zurück. Neben einer personellen Erneuerung und Rückgewinnung an Sachkompetenz müsse die Union sich wieder integrieren und ihre "Wertemuster" wiederbeleben. Die Union stehe für ein christlich geprägtes Freiheitsverständnis in Gemeinschaft und Solidarität. "Mit einer Abkehr zugunsten eines hohlen Konservatismus wird es jedenfalls nicht klappen", sagte Liedhegener im Interview. Der aus NRW stammende Liedhegener ist Politikwissenschaftler und Zeithistoriker am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) an der Universität Luzern.
Frage: Herr Professor Liedhegener, die Union hat ein katastrophales Wahlergebnis erlitten. War das nur ein Ausrutscher oder sehen Sie eine Tendenz?
Liedhegener: Ich glaube, es spricht viel für einen Ausrutscher. Diesmal spielten viele Sondereffekte eine Rolle. Nach einer 16-jährigen Regierungszeit drohen jeder Partei Verschleißerscheinungen. Die Corona-Pandemie spielte eine Rolle, weil die CDU stark auf eine direkte Kommunikation mit der Basis angewiesen ist. Das ist diesmal fast ausgefallen. Hinzu kommt ein Osteffekt: Dort ist die Krise der CDU besonders schlimm.
Frage: Hat sich auch die Wählerschaft verändert?
Liedhegener: Sie ist gleichsam wählerischer geworden und verlangt mehr Auswahl. Das sieht man am Parteiensystem. Schaut man also auf die langfristige Entwicklung der Union, so dürfte sie künftig zwischen 30 und 35 Prozent liegen.
Frage: Weist aber nicht auch dieser Trend auf ein Ende der Volksparteien wie in anderen europäischen Ländern hin?
Liedhegener: Dieser ist schon seit den 90er Jahren europaweit zu beobachten. Und die deutsche Gesellschaft ist heute noch weniger homogen als vor 20 Jahren. Stabile Volksparteien mit Wähleranteilen über 40 Prozent sind also soziologisch unwahrscheinlich.
Frage: Ist die Religionszugehörigkeit in einer zunehmend säkularen Wählerschaft noch von Bedeutung für die Wahlentscheidung?
Liedhegener: Sie spielt interessanterweise weiterhin eine Rolle. Katholiken, zumal die Kirchgänger unter ihnen, wählen eher Unionsparteien, Protestanten eher SPD. Aber angesichts des massiven Rückgangs in der Religionszugehörigkeit haben sie bei Wahlen nicht mehr das Gewicht.
Frage: Was hat sich gewandelt?
Liedhegener: Der anhaltende Entkirchlichungsprozess ist der Motor. Die Bindungen der Wählerschaft zu Religionsgemeinschaften und Kirchen werden von Generation zu Generation schwächer. Im Osten haben sie oft nie bestanden.
Frage: Wie ist die Bilanz der CDU nach 16 Jahren Kanzlerschaft unter Merkel?
Liedhegener: Wenn die Leistungsbilanz allein entscheidend gewesen wäre, hätte die Union wohl die Wahlen gewonnen: Immerhin hat Angela Merkel Deutschland und die EU erfolgreich durch epochale Krise wie die Finanz-, Flüchtlings- und Covidkrise gesteuert.
Frage: Umso mehr stellt sich die Frage nach dem Grund für das Wahlfiasko.
Liedhegener: Ich führe es vor allem auf den Zustand der Partei zurück. Ungeschicklichkeiten, Skandale und Personalstreitigkeiten dominierten.
Frage: Wo sehen Sie die wesentlichen Aufgaben für eine Erneuerung?
Liedhegener: Die CDU muss sich personell neu aufstellen und Sachthemen wieder kompetent besetzen. Das sagen alle. Kaum thematisiert, aber zentral ist die Integration der Partei als Mitgliedsorganisation und die Revitalisierung ihrer Wertmuster.
Frage: Wie soll die Integration geschehen?
Liedhegener: Annegret Kramp-Karrenbauer hatte in ihrer kurzen Zeit als CDU-Vorsitzende gute Ansätze etwa mit den Regionalkonferenzen und der Programmdiskussion, hier müsste man anknüpfen.
Frage: Und wie sieht es mit den Wertmustern aus?
Liedhegener: Die Union steht für ein christlich geprägtes Freiheitsverständnis; eine Freiheit in Gemeinschaft und Solidarität. Mit einer Abkehr zugunsten eines hohlen Konservatismus wird es jedenfalls nicht klappen.
Frage: Kramp-Karrenbauer wollte auch das "C" wieder stärken.
Liedhegener: Es ist der Markenkern. Der ehemalige Unionsfraktionschef Volker Kauder hat mit seinem Buch "Das hohe C" eine überzeugende Analyse vorgelegt und gezeigt, wie das "C" Kompass und Profil der Partei bestimmen. So stehen der liberale, soziale oder konservative Flügel nie für sich, sondern werden durch das "C" integriert.
Frage: Aber kann eine säkularisierte Gesellschaft, die inzwischen zum Teil auch die Union prägt, überhaupt noch verstehen, was mit dem "C" gemeint ist?
Liedhegener: In der Tat, das "C" wird innerparteilich gerne zitiert, aber in seiner Tragweite oft nicht mehr verstanden. Vor allem in Ostdeutschland gibt es riesigen Gesprächsbedarf, besonders in Thüringen. Wenn man die Wertgrundlagen nicht verinnerlicht hat, wird es schwierig, sich gegenüber anderen Positionen zu profilieren. Dabei setzt das "C" nicht voraus, dass man im kirchlichen oder religiösen Sinne gläubig ist. Es geht darum, wie der Mensch verstanden wird, wie die Würde und Gleichheit aller in der Politik zur Sprache kommen.
Frage: Die Verinnerlichung des "C" scheint derzeit allerdings schon am gegenseitigen Umgang in der Union zu scheitern.
Liedhegener: Damit sind wir bei einem wesentlichen Punkt für das Wahldesaster: dem Vertrauensverlust. Man kann vom Wähler nicht erwarten, der Union Vertrauen zu schenken, wenn ihre Politiker – es geht wirklich meistens um Männer – selbst nicht Willens sind, ein Mindestmaß an persönlicher Integrität zu praktizieren. Die Skandale um die Bereicherung bei der Maskenbeschaffung sind ein Tiefpunkt. Es braucht interparteilichen Dialog zur politischen Ethik und wirksame Verpflichtungen des politischen Personals auf moralische Standards, um mittelfristig die Glaubwürdigkeit der Union zurückzuerlangen.