Gleicher Glaube, verschiedene Partei: Religiosität und Wahlverhalten
Allen Austrittszahlen zum Trotz: Es gibt immer noch viele Menschen in Deutschland, die sich den Kirchen verbunden fühlen – das heißt, sie sind nicht nur auf dem Papier Mitglied, sondern identifizieren sich in irgendeiner Weise mit ihrem Glauben. Das hatte in der Vergangenheit und hat auch heute noch Folgen für politische Präferenzen und das Wahlverhalten – auch, wenn ähnliche Ausgangssituationen im Zeitverlauf zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben.
Eine feste Konstante in der religionspolitischen Landschaft in Deutschland ist ganz ohne Zweifel die Verbindung zu den Unionsparteien. Die Welt der Schützenbruderschaften, Frauengemeinschaften und Gesellenvereine ist eine Welt, in der (vornehmlich) CDU oder CSU gewählt wird. Im katholischen und protestantischen Milieu in Bayern, dem Rheinland, Westfalen oder Norddeutschland hatten und haben beide Parteien ihr festes Standing. Es gehörte lange zur gemeinschaftlichen Identität dieser Regionen und Gruppen, gemeinschaftlich Union zu wählen. Bis heute lässt sich verallgemeinernd sagen: Wer regelmäßig in die Kirche geht, wählt wahrscheinlich schwarz. Dieses Phänomen ist in den letzten Jahrzehnten relativ konstant geblieben.
Dabei hat sich die Welt drumherum einschneidend verändert: Menschen sind mobiler geworden, wohnen vermehrt in Städten und das traditionelle Familien- und Verbandsleben ist nicht mehr der unangreifbare Standard wie einstmals. Seit den 1970er Jahren sind alle Milieus in Deutschland eingeschmolzen, auch die religiösen. Die entsprechenden Haltungen sind bei ihren (ehemaligen) Mitgliedern aber oft geblieben. Die Babyboomer-Generation ist, das zeigen Umfragen, noch in volkskirchliche Glaubensmilieus hineingewachsen – und selbst wenn diese Generation vielleicht heute nicht mehr in die Kirche geht, setzt sie das Kreuz auf dem Wahlschein doch bei der Union.
Grün statt schwarz
Das sieht bei der jungen Generation gläubiger Menschen nicht selten anders aus. Der Glaube ist da zwar der gleiche, es fehlt allerdings die starre Milieuverankerung. Die Generation der Unter-40-Jährigen orientiert sich eher inhaltlich an dem, was die Kirche predigt: Solidarität mit Menschen am Rande der Gesellschaft, Bewahrung der Schöpfung – beides Themen, die vor allem bei den Grünen im Fokus stehen. Deshalb entscheidet sich die jüngere Generation häufiger auch für sie. Ein Zeichen dafür, dass sich das Verhältnis zur Religion gewandelt hat – denn die Haltung der Kirche war immer die gleiche. Sie hat sich schon immer für Solidarität etwa mit Zugewanderten und Nächstenliebe eingesetzt. Diese Haltungen wurden von den religiösen Milieus vergangener Jahrzehnte allerdings nicht geteilt, dort herrschte eher ein konservativer Abwehrmechanismus vor. Man war aus kulturellen und identitären Gründen beispielsweise katholisch, die eigentlichen Glaubensinhalte spielten aber eine untergeordnete Rolle. Junge religiöse Menschen heute geben dagegen oft an, sich für den Glauben bewusst entschieden zu haben und richten ihre Präferenz inhaltlich daran aus. Deshalb treffen Mitglieder der gleichen Glaubensgemeinschaft je nach Generation unterschiedliche Wahlentscheidungen. "Religion hat ihren diskriminierenden Charakter verloren", sagt der Sozialwissenschaftler Pascal Siegers. "Noch in den 1980er Jahren wäre es für Kirchgänger völlig undenkbar gewesen, grün zu wählen. Heute ist das kein Problem mehr." Das hat auch mit der Zuwendung der Kirchen hin zur Bewahrung der Schöpfung zu tun, im angelsächsischen Raum "greening of christianity" genannt: Der Naturschutz als urchristliches Thema ist konfessionsübergreifend in den letzten Jahrzehnten stärker in den Fokus getreten.
Durch die junge Generation wird dieses Thema in der religiösen Community wichtiger werden, glaubt Siegers. Denn die milieugebundenen Generationen sterben in den nächsten zwanzig Jahren, diese eher zivilgesellschaftliche Art des Glaubens und die damit einhergehende Bindung zur Union wird verschwinden. Religiöse werden als Minderheit aber weiter eine Rolle spielen, schließlich machen sie in der jungen Generation noch zehn Prozent des Wahlvolks aus. Genug, um im Ernstfall die entscheidenden Prozentpunkte beizusteuern. Nur ihre Parteipräferenz wird eine andere sein. Und da linke Parteien für Religiöse wegen ihrer Distanz zu den Kirchen wenig attraktiv sind, bieten sich die Grünen mit ihrer Offenheit und Umweltsensibilität an.
Religiöse Themen stehen hintenan
Diese Veränderung wird dadurch begünstigt, dass genuin religiös oder ethisch konnotierte Themen in der deutschen Politik oft nicht ausschlaggebend sind. Wenn etwa zur Sonntagsfrage erhoben wird, welche Themen relevant sind, unterscheiden sich Religiöse nicht von der restlichen Gesellschaft: Arbeit, Umweltschutz und Bildung sind die wichtigsten Baustellen. Da in Deutschland – etwa im Gegensatz zu den USA – der religiöse Fundamentalismus nicht verbreitet ist und sich das auch nicht ändern dürfte, gibt es zum Beispiel keine "single issue voters". Bei diesem Phänomen fällen religiöse Menschen ihre Wahlentscheidung einzig und allein nach der Haltung eines Kandidaten zu einem bestimmten Thema, etwa der Abtreibung. Solche Phänomene lassen sich in Deutschland und auch im restlichen Europa nicht beobachten.
Grund dafür ist ein besonderes Verhältnis der Kirchen zum Staat. Man ist zwar voneinander abgegrenzt, arbeitet in manchen Bereichen aber zusammen. Dazu gehört auch, sich in die Angelegenheiten des jeweils anderen generell nicht einzumischen. Mit der Zeit haben sich deshalb in zentralen Konfliktfragen wie Abtreibung, Sterbehilfe, Religionsunterricht an Schulen oder der Ehe für alle Kompromisse herausgebildet, mit denen beide Seiten leben können. Von Wahlempfehlungen enthalten sich die Kirchen und bringen ihre Meinung nur punktuell bei bestimmten Sachthemen an. Im Gegenzug bekämpft der Staat die Kirchen nicht offensiv, sondern hört ihre Meinung, weist ihren Vertretern Plätze in Ethikkommissionen zu und ändert an der Kirchenfinanzierung nichts. Am Ende lohnt sich dieses System für beide Seiten – in fast allen europäischen Ländern.
Wenn sich mit Glaube und Kirche an sich also keine Politik machen lässt, was bedeuten die Veränderungen in der Gruppe der Kirchennahen und der Rückgang der Kirchenbindung für die Parteien – vor allem die Union?
Flexibilität der Union
"CDU und CSU haben in den letzten Jahrzehnten ein extrem flexibles programmatisches Profil entwickelt, um nicht nur die Stammwählerschaft anzusprechen – denn die wird ja immer weniger", erklärt Siegers. Die Erfahrung hat gezeigt, dass das Milieu den beiden Parteien die Treue hält, sie können durch ihre Programmatik also gezielt neue Wählergruppen hinzugewinnen, ohne bisherige zu verlieren. Selbst am rechten Rand kann die Union Religiöse einbinden. "Das ist für CDU und CSU eine Erfolgsgeschichte", so Siegers. Die Rechtspopulisten, die es in Deutschland gibt, reden vielleicht gern vom christlichen Abendland, "religiös sind die aber nicht", hält er fest. Die AfD setze auf "kleinbürgerliche Besitzstandwahrung der eigenen Privilegien", aber ohne das mit religiösen Inhalten zu begründen. "Rechtskonservative religiöse Wähler sind dann von der Solidarität der Kirchen eher irritiert – das könnte dann sogar ein Austrittsgrund sein."
Was bleibt, ist also eine große Beständigkeit im Wahlverhalten der Religiösen – abhängig von ihrer Generation. Gleichzeitig sinkt deren Zahl beständig. Diese Struktureffekte werden sich auch bei der kommenden Wahl beobachten lassen, glaubt Siegers. Das ist vor allem für die Union eine Herausforderung, deren Sockelwählerschaft immer kleiner wird. In Zukunft werden die programmatischen Inhalte wohl noch wichtiger werden. Denn Menschen ohne konfessionelle Bindung oder zivilgesellschaftliche Einbettung durch Milieus sind in ihrem Wahlverhalten unbeständiger als Milieugebundene, sind Wechselwähler. Da dezidiert religiöse Themen im Wahlkampf keine Rolle spielen, steht die allgemeine Haltung der Parteien auf dem Prüfstand. "Man kann diese Abkehr von Milieus an Armin Laschet beobachten", sagt Siegers. "Der ist eine Frucht dieses klassischen katholischen konservativen Milieus. Er versucht aber nicht, damit zu punkten – und auch Angriffe gegen ihn wegen seiner Religion haben nicht so recht gezündet. Selbst für Religiöse stehen also andere Themen oben auf der Prioritätenliste." Erst nach der Wahl wird sich herausstellen, wie weit der demographische Effekt bei den Christen wirklich schon Wirkung zeigt. Die bereits sichtbaren Veränderungen werden sich nicht umkehren lassen – die Veränderung ist auch bei den Religiösen die größte Konstante.