Bätzing: Ändern wir nichts in der Kirche, gehen wir "gegen Null"
Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz spricht der Limburger Bischof Georg Bätzing für die Gesamtheit des deutschen Episkopats. Doch vertritt er klare kirchenpolitische Meinungen, etwa zur Frauen-Frage oder beim Thema Zölibat. Im Interview erklärt er, warum Zurückhaltung oder gar eine Ängstlichkeit der falsche Weg wäre. Er erzählt außerdem von den Erfahrungen aus seiner Kindheitsgemeinde, in der ein Priester Kinder und Jugendliche missbraucht hat – und hält fest, dass man die Aufarbeitung von Missbrauch den Betroffenen schuldet.
Frage: Die Kirche steckt in der Krise, nicht nur durch den Missbrauch. Die Zahlen der Mitglieder, Neupriester und Gottesdienstbesucher gehen rapide zurück. Fährt die Kirche da auf eine Wand zu? Wirkliche Lösungsansätze scheint es ja nicht zu geben, eher eine Mangelverwaltung.
Bätzing: Ich teile diese Sorge. Wenn wir nichts verändern, dann werden wir radikal verändert werden. Wir werden nämlich gegen Null gehen. Die Weiterentwicklung, das Weitertragen der Tradition, stockt seit Jahrzehnten – und die Auswirkungen davon nehmen wir massiv wahr. Deshalb glaube ich auch, wir brauchen einen radikalen Perspektivwechsel in der Kirche.
Wir müssen wegkommen von der Frage, "Was wird denn aus uns?". Ich höre häufig die Klage, was alles nicht mehr ist. Diese Frage nützt nichts, die führt nur zu Frustration und Resignation. Und, das merke ich bei vielen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, man stellt die Schuldfrage: Wer ist denn schuld daran? Bei meinen Visitationen sage ich oft "niemand von uns hat Schuld", um auch einfach ein Stück Freiheit zu schaffen. Aber es braucht diesen Perspektivwechsel. Nicht "Was wird aus uns?", sondern "Für wen sind wir da?". Denn wir haben eine Botschaft, von deren Kraft ich höchstüberzeugt bin. Das Evangelium entfaltet auch heute seine Kraft. Die Sakramente sind für die Menschen da und wirken im Leben.
Wir fragen immer: Wie stoppen wir die Krise? Wir stoppen die Krise nicht. Die Krise läuft und sie hat auch mit gesellschaftlichen Trends zu tun, die wir überhaupt nicht steuern können. Die Individualität, das Pluralisieren, das eher auseinandertreibt als zusammenführt und viele andere Elemente. Wir stoppen die Krise nicht, sondern wir müssen fragen: Worin stoppt denn die Krise uns? Denn ich glaube, dass uns Gott mit den Zeichen der Zeit eine Botschaft gibt.
Frage: Haben die Menschen überhaupt noch Interesse an dieser Botschaft?
Bätzing: Ja, aber wir brauchen neue Kontaktpunkte. Meine Erfahrung ist: Wenn wir uns aufmachen in andere Milieus hinein, entdecken wir Menschen, die dieselben Fragen haben wie wir. Die stellen Sie vielleicht nicht so laut, oder haben keine Partner, darüber zu reden. Wenn man dort präsent wird, in Selbstlosigkeit, dann entstehen auf einmal Frageräume. Das haben wir ja wunderbar bei der Willkommenskultur gelernt. Frageräume und Suchbewegungen. Nicht massenhaft. Auch davon müssen wir Abschied nehmen. Wir werden keine Massenbewegung mehr sein. Dennoch bin ich ein großer Verteidiger davon, dass die Kirche immer alle ansprechen sollte. Wir dürfen keine Sekte werden. Nicht sagen: "Wir machen es jetzt ganz intensiv und richtig, egal ob die Leute gehen oder mit uns gehen." Nein, es ist nicht egal. Das ist nicht unsere Aufgabe.
Frage: Sie vertreten klare kirchenpolitische Standpunkte, zum Beispiel beim Thema Weiheämter für Frauen oder der Diskussion um den Zölibat. Nun sprechen Sie als Vorsitzender der Bischofskonferenz ja nicht nur für sich selbst, sondern auch für die anderen Bischöfe. Bräuchte es da nicht mehr Zurückhaltung Ihrerseits?
Bätzing: Ein bisschen scherzhaft sage ich: Die Brüder haben mich gewählt, als ich schon vier Jahre Bischof war. Die wissen, was meine Überzeugungen sind. Die wissen auch, dass ich damit nicht hinter dem Berg halte. Sie wissen aber auch, dass ich kritikfähig bin. Wenn es einem nicht passt, was ich sage, kann er das gerne sagen – auch öffentlich. Aber jetzt ist nicht die Zeit der Zurückhaltung. Ich bin nicht Bischof für die anderen Bischöfe, sondern für die Gläubigen meines Bistums. Die haben ein Recht darauf zu wissen, was ich denke und wie ich mich positioniere. Insofern ist es eine innere Gewissenspflicht, wenn ich hier und da sehr deutlich sage, was ich denke.
„Ich bin 60 Jahre alt. Die Zeit der Ängstlichkeit ist vorbei. Das war mal anders.“
Frage: Trotzdem müssen Sie damit rechnen, dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird und nationale, teils internationale Schlagzeilen bringt. Wie gehen Sie damit um?
Bätzing: Ich bin 60 Jahre alt. Die Zeit der Ängstlichkeit ist vorbei. Das war mal anders. Es gab durchaus Zeiten, da war ich ängstlicher, zurückhaltender. Es geht aber um so viel in unserer Zeit, da ist es wichtig zu sagen, was wir denken. Wenn wir das in der Kirche nicht können, würde ich mich wirklich fragen, ob das noch meine Heimat ist – und das ist sie.
Frage: Sie haben das Thema Kritikfähigkeit angesprochen. Gibt es einen Punkt, wo Sie Ihre persönliche Meinung durch solche Kritik oder Auseinandersetzungen geändert haben?
Bätzing: Im Laufe meines Lebens würde ich sagen, sind schon bestimmte Ansichten klarer geworden. Ich halte die Frauenfrage in der Kirche für die entscheidende Zukunftsfrage. Da bin ich viel sicherer geworden, auch durch Kritik an meinen Positionierungen. Ich bin sehr von Hans Urs von Balthasar geprägt. Die Geschlechtertypologie, die in seinem Werk eine bedeutende Rolle spielt, gerade im Hinblick auf das sakramentale Amt. Das hat mich in der Zeit als junger Priester und auch als Theologiestudent sehr überzeugt. Ich habe das auch vertreten. Ich habe das in Diskussionen eingebracht. Aber die Diskussionen haben mich verändert, sodass ich heute sagen würde, dieses theologische Hilfsmittel einer Geschlechtertypologie, die sich ja findet, bis hin in die neutestamentlichen Bilder von Braut und Bräutigam, das kann in unserer Zeit nicht mehr Leitbild sein, weil es uns nicht hilft in den Problemen, die wir zu bewältigen haben. Zumindest nicht, wenn man es isoliert betrachtet.
Bei der Frage habe ich mich also sehr verändert, sodass ich bereits bevor ich Bischof geworden bin, gesagt habe: Ich kann nicht mehr wirklich sehen, dass die Argumente für das dem Mann vorbehaltene Priesteramt wirklich noch im Volk Gottes aufgenommen werden. Und das ist doch eine theologische Qualität. Wenn das nicht mehr geschieht, muss ich mich fragen, ob ich so argumentieren kann. Das ist die Frage, die ich mir sehr stelle. Könnte ich mir denn bildhaft vorstellen, dass eine Frau ein sakramentales Amt in der Kirche übernimmt? Dann sage ich heute: Ja, das kann ich.
Frage: Thema Synodaler Weg. Gerade nach der zweiten Synodalversammlung in Frankfurt Anfang Oktober gibt es auch im Vatikan und der Weltkirche viel Gegenwind für das deutsche Reformprojekt. Viele der diskutierten Punkte können nur auf höchster weltkirchlicher Ebene entschieden werden, nicht in Deutschland. Ist dann das Scheitern des Projektes nicht schon vorprogrammiert? Deutschland beschließt Reformen, die dann später nicht umgesetzt werden können. Dann gibt es doch im Endeffekt nur noch mehr Enttäuschung und wir stehen schlechter da als vorher.
Bätzing: Das befürchte ich nicht. Wir stehen nämlich sehr schlecht da in den Augen der Öffentlichkeit und vor allem auch in den Augen unserer eigenen Kirchenmitglieder. Der Geduldsfaden ist zum Zerreißen gespannt, auch bei den Hochverbundenen. Die hohen Zahlen von Kirchenaustritten – wir können ja schon ahnen, dass in diesem Jahr nicht weniger, sondern wahrscheinlich noch mehr Menschen aus der Kirche austreten – sind ja Signale: Wir wählen euch ab. Wir sind nicht zufrieden mit dem, wie sich die Kirche verändert und mit dem Tempo der Veränderung. Wir wären gerne dabei. Wir wollen unseren Glauben bewahren, aber wir sehen nicht, wie wir das mit dieser Kirche tun können.
Themenseite: Der Synodale Weg der Kirche in Deutschland
Wie geht es nach dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Deutschland weiter? Bei der Frühjahrs-Vollversammlung 2019 in Lingen beschlossen die deutschen Bischöfe einen Synodalen Weg. Gemeinsam mit allen Gläubigen wollen sie Reformen anstoßen. Die Themen: Machtmissbrauch, Sexualmoral, Zölibat und die Rolle der Frau.
Also die Dramatik ist jetzt schon da. Das kann schlechter nicht werden. Im Blick auf den Synodalen Weg kann ich eigentlich nur wiederholen, was Thomas Sternberg gesagt hat. Da geht es um ein Erwartungsmanagement. Habe ich die Erwartung, dass der Synodale Weg jetzt das Priesteramt für die Frau fordert? Würde er das fordern, wissen wir, was Rom und der Papst antworten müssen. Er kann es überhaupt nicht einführen, jetzt, sondern nur über einen konziliaren Prozess. Diese Forderung wäre also unklug und nach meiner Einschätzung wird es auch nicht dazu kommen.
Aber seit "Ordinatio sacerdotalis" von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1994 wird der Versuch gemacht, die Frauenfrage als geklärt und geschlossen zu bezeichnen. Wir spiegeln aber aus unserer kulturellen und kirchlichen Situation heraus: Für die Gläubigen und für viele im Amt ist die Frage nicht geschlossen. Sie ist offen, sie wird gestellt und sie wird nicht beruhigt werden. Auch nicht dadurch, dass Frauen in viele andere Leitungsposition mittlerweile hineinkommen in der Kirche und an den Entscheidungen beteiligt werden – und das in Zukunft hoffentlich noch viel stärker.
Frage: Also klar machen, wo die Grenzen liegen, aber sich trotzdem nicht der Diskussion verschließen?
Bätzing: So ist es. Das gilt auch für die Frage des Priesteramtes. Ich glaube, dass wir hier die Argumente für ein Priesteramt, das durchaus mit der Ehe verbunden sein kann, stark machen. Und da sind wir ja nicht allein. Aber wir wissen auch, wir werden den Zölibat – das ist ja immer die Kurzformel – nicht als Kirche in Deutschland aufheben. Aber wir wollen Argumente liefern, warum das der Not auch der Sakramente in unserer gegenwärtigen Situation vielleicht abhelfen könnte. Das ist nicht nur eine Not im Amazonasgebiet, das ist eine Not hier in unserem Land.
Frage: Thema sexueller Missbrauch. Die MHG-Studie 2018 war ein riesiger Schock für das System, obwohl seit 2010 schon klar war, dass es einen Missbrauchsskandal gibt. Schon vor Ihrer Zeit als Bischof waren Sie in der Priesterausbildung tätig. Was haben Sie eigentlich damals darüber gedacht? Alles Einzelfälle?
Bätzing: In der Priesterausbildung selber bin ich dem Phänomen damals nicht begegnet. Später, nach 2010, in meiner Zeit als Generalvikar ist mir aber aufgegangen, dass ich vereinzelt Seminaristen hatte, die Missbrauch erfahren haben. Nicht im Umfeld des Priesterseminars, sondern in ihrer Gemeinde. Das war für mich eine erschreckende Erkenntnis, die mir die Augen geöffnet hat.
Ich komme selbst aus einer Pfarrei, in der es einen Priester gab, der Jugendliche missbraucht hat, Kinder missbraucht hat. Und ich könnte an diesem Beispiel alle Strukturelemente, die wir aufgedeckt haben, erkennen: Das Verschweigen, das Wegdrücken bei den jungen Leuten; das Schauen, den Täter sozusagen unschädlich zu machen. Was mit den Betroffenen ist, spielte kaum eine Rolle. Bis heute hat keine echte Kommunikation darüber stattgefunden. Das war in den 60er-Jahren – also gottlob, bevor ich Jugendlicher war. – Ich habe immer ein Wissen darüber gehabt, aber ein sehr unspezifisches, weil nicht darüber geredet wurde. Insofern habe ich im Grunde auch für mich persönlich den gesamten Lernprozess mitmachen müssen. Auch mit der Enttäuschung darüber, was Priester anrichten, wenn sie ihre Macht und ihre geistliche Macht in dieser Weise missbrauchen. Ich muss ehrlich sagen, das ist eben auch persönlich für mich als Priester eine Enttäuschung, dass man diese Macht nicht zum Fördern einsetzt, sondern missbräuchlich, Menschen damit für ihr ganzes Leben schädigt und ihnen den Glauben aus dem Herzen reißt.
Diesen Lernprozess und auch den Perspektivwechsel auf die Opfer, die Betroffenen, die Überlebenden, wie sie sich oft nennen, ihnen Aufmerksamkeit zu widmen, das habe ich wirklich erst lernen müssen. Mühsam lernen müssen.
„Das, was wir jetzt mühsam tun, dürfen wir nicht tun, um Vertrauen zurückzugewinnen, sondern weil wir es den Betroffenen schulden.“
Frage: Trotzdem ist die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ja immer noch fatal. Das Bild, das sich ergibt, ist eines von Vertuschung und Zugeständnissen, nur da wo es absolut nötig ist. Wir haben ja aber den guten Willen von vielen. Und es wird ja auch viel im Bereich Prävention und Aufarbeitung gemacht. Warum kriegen wir trotzdem nicht die Kurve?
Bätzing: Das ist ein berechtigtes Anliegen. Ich nehme jetzt mal an, Sie sind ein Gläubiger, der möchte, dass er auch noch mal mit erhobenem Haupt und geradem Rücken sagen kann: Ich bin katholisch. Viele können das nicht mehr, weil sie sich direkt rechtfertigen müssen. Das hat mit dem verlorenen Vertrauen zu tun. Meine Erfahrung ist: Das, was wir jetzt mühsam tun, dürfen wir nicht tun, um Vertrauen zurückzugewinnen, sondern weil wir es den Betroffenen schulden. Wir müssen es so gut tun, wie wir es können. Wir müssen es in den Grenzen tun, wie wir es können. Ob daraus neues Vertrauen wächst oder nicht, liegt nicht in meiner Hand, das liegt in der Hand anderer. Vertrauen wird geschenkt, nicht gekauft oder errungen.
Das merke ich ja auch als Bischof von Limburg. Wir hatten vor kurzem einen großen Kongress, wo es um massive Veränderungen im Bistum geht, mit vielen Beteiligten. Ich möchte, dass das groß beraten wird. An einem Punkt fragte die Moderatorin: "Herr Bischof, kann man Ihnen trauen?" Diese Frage war gut. Darauf habe ich gesagt: Vertrauen kann man nur schenken. Ich schenke es Ihnen. Manchmal sage ich mir: Jetzt bin ich schon fünf Jahre hier und strampele mich ab: Was soll ich noch tun? – Aber Sie entscheiden, ob Sie vertrauen oder nicht.
Und das gilt für die Frage des Missbrauchs und der Finanzskandale und der Vertrauenskrisen, wie wir sie in Köln haben, alles genauso. Wir müssen unsere Arbeit tun. Aber ich verstehe die Ungeduld vieler Gläubiger, die sagen: Ich kann bald nicht mehr. Ich will mich nicht immer rechtfertigen müssen, dass ich noch zu diesem Laden gehöre.
Frage: Die Kirche hat nicht das Recht, dass die Betroffenen fair zu ihr sind. Würden Sie das unterschreiben?
Bätzing: Das würde ich sehr unterschreiben, ja.
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