Ampel-Koalition: Mehr Trennung zwischen Staat und Kirche wagen
Erstmals seit 16 Jahren kommt eine Bundesregierung ohne Beteiligung der traditionell kirchennahen und christlich geprägten Unionsparteien zustande. SPD, Grüne und FDP haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zwar an Kirchennähe gewonnen – der am Mittwoch vorgelegte Koalitionsvertrag mutet den Kirchen aber einiges zu. Überraschend ist das nicht: Die Marschlinie hatte sich schon bei den Wahlprogrammen abgezeichnet – die Wähler haben im Bereich der Religionspolitik weitgehend bekommen, was zu erwarten war. Unter der zuende gehenden Großen Koalition spielte das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften nur eine geringe Rolle; grundsätzliche Reformen des Staatskirchenrechts wurden nicht angegangen. Oppositionsanträge etwa zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen hatten erwartbar keinen Erfolg.
In der kommenden Legislaturperiode soll sich das ändern: Reformen beim kirchlichen Arbeitsrecht, Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, Ablösung der Staatsleistungen – die Ampel-Koalition nimmt sich einiges vor. Dabei fällt auf, dass im Vergleich zum Koalitionsvertrag der vorigen Großen Koalition Kirchen und Religionsgemeinschaften insgesamt etwas weniger Raum einnehmen. Zwar schätzt auch die Ampel das Engagement der Kirchen in der Entwicklungszusammenarbeit und will ihre Förderung stärken; weiterhin will sie in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik das Thema Religion stark machen.
Kein Schwerpunkt mehr bei Religionsfreiheit weltweit
War für die Vorgängerregierung aber das Thema Religionsfreiheit und Christenverfolgung weltweit noch ein wichtiges Thema – so wurde unter anderem das Amt eines Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit geschaffen –, tauchen diese Themen im Koalitionsvertrag überhaupt nicht auf. Lediglich mit Blick auf muslimisches und jüdisches Leben in Deutschland gibt es ein klares Bekenntnis zum Schutz dieser Gemeinschaften und ihrer Gläubigen. Das Problem des islamistischen Extremismus hat dagegen einen deutlich geringeren Stellenwert als bei der Vorgängerregierung. Zur Zukunft des Beauftragten für Religionsfreiheit gibt es keine Aussage, das Amt des Antisemitismus-Beauftragten soll allerdings gestärkt werden. Ausführliche Würdigungen des kirchlichen Wirkens in der Gesellschaft, wie sie im Vorgängervertrag immer wieder vorkommen, fehlen aber.
Immerhin: Der Abschnitt zu Kirchen und Religionsgemeinschaften wird mit einem wertschätzenden Absatz eingeleitet: "Kirchen und Religionsgemeinschaften sind ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens und leisten einen wertvollen Beitrag für das Zusammenleben und die Wertevermittlung in der Gesellschaft. Wir schätzen und achten ihr Wirken." Das reicht aber auch an Nettigkeiten – danach geht es zur Sache. Die Koalitionäre kündigen ein zusammen mit den Ländern und Kirchen entwickeltes "Grundsätzegesetz" an, das einen "fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen" schaffen will. Grundsätzlich haben sich in der Vergangenheit auch die Kirchen offen gezeigt für eine Ablösung der Staatsleistungen. Zugleich gibt es aber innerkirchlich Bedenken, wie angesichts sinkender Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuereinnahmen die Folgen eines solchen Gesetzes getragen werden können. Gerade die kleineren Bistümer und Landeskirchen im Osten bestreiten einen größeren Teil ihres Jahreshaushalts aus Staatsleistungen als die mitgliederstarken Kirchen im Westen.
Staat-Kirche-Verhältnis auf den Prüfstand
Generell stehen die Zeichen auf größeren Abstand zwischen Staat und Kirche: Das Religionsverfassungsrecht soll "im Sinne des kooperativen Trennungsmodells" weiterentwickelt werden. Ziel ist dabei eine bessere Beteiligung und Repräsentanz insbesondere der muslimischen Gemeinden. "Neuere, progressive und in Deutschland beheimatete islamische Gemeinschaften" sollen dabei eingebunden werden, Zusammenarbeit der Religionsgemeinschaften und "Orte der Begegnung" gefördert werden. Generell liegt der Fokus der Ampel stärker auf der Unterstützung der muslimischen Gemeinde als auf der Problematisierung von islamistischem Extremismus, die noch den Groko-Koalitionsvertrag prägte.
Geplant ist auch, das kirchliche Arbeitsrecht kritisch in den Blick zu nehmen: "Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann", heißt es im Kapitel über betriebliche Mitbestimmung, fast wörtlich aus dem SPD-Wahlprogramm übernommen. Verkündigungsnahe Tätigkeiten sollen dabei aber ausgenommen werden. Wieviel Konfliktpotential hier besteht, ist noch nicht abzusehen. Den Kirchen selbst ist im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der das in Deutschland traditionell hochgehaltene Selbstverwaltungsrecht der Kirchen weniger beachtet als die deutschen Gerichte, klar, dass hier Änderungen unvermeidlich sind.
Bei der Aufarbeitung von Missbrauch positioniert sich die Ampel nicht direkt auf Konfrontationskurs zu kirchlichen Stimmen, die einer staatlichen Aufarbeitung speziell des Missbrauchs in der Kirche etwa durch Untersuchungsausschüsse kritisch gegenüber stehen. Die Kirchen werden zusammen mit Sportvereinen und Jugendarbeit als gesellschaftliche Sektoren aufgeführt, in denen die Regierung die Aufarbeitung "begleiten" und "aktiv fördern" will – die Große Koalition hatte in ihrem Vertrag keine Gruppen benannt. Wenn nötig, will die Ampel zur Aufarbeitung auch "gesetzliche Grundlagen" schaffen – wie die aussehen könnten, wird nicht ausgeführt. Ein Wunsch des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs wird erfüllt: Künftig soll er regelmäßig dem Bundestag berichten.
Keine Lobby für den Lebensschutz in der Koalition
Eine deutliche Wende steht im Bereich des Lebensschutzes an. Die Kirchen haben ohne die Unionsparteien nun keine Verbündeten mehr in diesem Politikfeld: Das Werbeverbot für den Abbruch der Schwangerschaft in § 219a StGB soll abgeschafft werden – das war zu erwarten. Weitergehende Reformen, wie sie bisweilen erwartet wurden, etwa eine Entkriminalisierung von Abtreibungen durch Abschaffung des § 218 StGB, hat sich die Ampel nicht vorgenommen; gestärkt werden soll allerdings das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und Schwangerschaftsabbrüche Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung werden. Für radikalere Abtreibungsgegner weht künftig ein kälterer Wind: "Sogenannten Gehsteigbelästigungen […] setzen wir wirksame gesetzliche Maßnahmen entgegen", kündigen die Koalitionäre an.
Auf die Kirchen kommt eine spannende Legislaturperiode zu: Jahrelang hatte sie in der Bundesregierung eine Verbündete, die am Status quo des Verhältnisses von Staat und Kirche nichts Großes ändern wollte. Auf europäischer Ebene warb die unionsgeführte Regierung für das besondere Verhältnis in Deutschland und verhandelte beispielsweise Ausnahmen für Religionsgemeinschaften in Verordnungen, in denen man sie nicht erwartet hätte – etwa beim EU-Datenschutzrecht. Solche Zugeständnisse können die Kirchen nun nicht mehr erwarten. Bisher konnte man sich bequem auf den Standpunkt stellen, dass man einer Ablösung der Staatsleistungen offen gegenüber stehe – nun gibt es ein Gegenüber, das das auch tatsächlich will.
Für das kirchliche Arbeitsrecht drohten Einschnitte bisher hauptsächlich vom Europäischen Gerichtshof – nun kommt das auch in der deutschen Politik auf die Tagesordnung. Im Staatskirchenrecht kann die neue Bundesregierung einen jahrelangen Reformstau auflösen und der in Deutschland deutlich bunter gewordenen religiösen Landschaft einen angemessenen religionsverfassungsrechtlichen Rahmen geben. Besonders kritisch wird in den kommenden vier Jahren die Außenpolitik zu betrachten sein: Hier hat sich die Große Koalition durch ihren Schwerpunkt auf Religionsfreiheit Verdienste erworben. Dieses angesichts seit Jahren stetig zunehmender Bedrohung von Religionsfreiheit wichtige Zukunftsthema ist eine auffällige Leerstelle im Koalitionsvertrag, der "mehr Fortschritt wagen" will.