Koalitionsvertrag – Wenn Sport mehr Raum einnimmt als Religion
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Felix Neumann hat sich hier bereits in großer analytischer Nüchternheit des am Mittwoch veröffentlichten Koalitionsvertrags der Ampelkoalition angenommen und diesen auf das Thema "Religion" hin durchleuchtet. Was er bereits angesprochen hat, muss hier nicht wiederholt werden, soll aber um einige weitere Beobachtungen ergänzt werden.
Es ist wirklich erstaunlich, wie wenig der Faktor Religion in diesem doch umfangreichen Schriftstück berücksichtigt wird. Wenn die Religionsgemeinschaften in Deutschland vielleicht an Bedeutung verlieren mögen, so ist deren weltweite Bedeutung absolut unstrittig. 84 Prozent der Menschheit bekennen sich zu einer Religion. Meinen die Koalitionäre wirklich, dass ihnen die großen Politikfelder "Europa", "Integration", "Migration" und "Flucht" wirklich unter Ausklammerung des Faktors Religion gelingen? Dass "Religionsfreiheit" kein zentrales Thema einer deutschen Menschenrechtspolitik ist? Hätte es nicht wenigstens der Anstand geboten, bei den Themen "Humanitäre Hilfe", "Zivile Krisenprävention" und "Friedensförderung" auf die bewährte Kooperation mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu verweisen?
Überhaupt wird das ganze Thema "Religion" nur mit spitzen Fingern angefasst. Im riesigen Themenbereich "Entwicklungszusammenarbeit" fällt lediglich der Satz: "Wir stärken unsere Förderung der Zivilgesellschaft und die wichtige Rolle von Gewerkschaften, politischen und privaten Stiftungen und Kirchen, insbesondere in fragilen Kontexten" (RN 5152f). Hier werden die Kirchen lediglich an dritter Stelle genannt, ähnlich wie im großen Thembereich "Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik": "Wir (…) verstärken die Programme in europäischen Grenzregionen sowie die internationale Sportpolitik und den Bereich Religion und Außenpolitik" (RN 4247-4249). So nimmt es auch nicht wirklich Wunder, dass das Thema "Sport" einen mehr als doppelt so großen Raum einnimmt als das Thema "Kirchen- und Religionsgemeinschaften".
Und was dort in dürren Worten steht, lässt aufhorchen: "Kirchen und Religionsgemeinschaften sind ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens und leisten einen wertvollen Beitrag für das Zusammenleben und die Wertevermittlung in der Gesellschaft. Wir schätzen und achten ihr Wirken" (RN 3717-3719).
Das ist es? Sind nicht alle Religionsgemeinschaften vielmehr mit der großen Menschheitsfrage "Was darf ich hoffen?" beschäftigt? Sind sie nicht eine bleibende Erinnerung an jeden politisch Handelnden, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt? Dass Menschen auch spirituelle Ressourcen haben, die sich politisch nicht vereinnahmen lassen, aber die die Welt verändern können?
Vielleicht ist das die große Chance der nächsten Legislaturperiode: Die Religionsgemeinschaften können neu verdeutlichen, dass sie mehr sind als Wertevermittlungsagenturen und die Politik kann dies vielleicht neu entdecken. In diesem Sinne: Mehr Neugier aufeinander und Dialog miteinander wagen!
Der Autor
Der Jerusalemer Benediktinermönch Nikodemus Schnabel OSB ist Lateinischer Patriarchalvikar für alle Migranten und Asylsuchenden und Direktor des Jerusalemer Instituts der Görres-Gesellschaft (JIGG).
Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.