Wie eine Contergangeschädigte durch ihre "persönliche Hölle" ging
Ihr Wohnzimmer ist bunt, knallig und leuchtend eingerichtet. Am Fenster steht ein geschmückter kleiner Weihnachtsbaum aus Plastik. Brigitte Rohr ist voll in Weihnachtsstimmung. Sie spricht beschwingt, lebhaft und mit unverblümter Offenheit. Die Stimmung ist gut. Doch sie sagt auch: "Ich bin durch meine eigene persönliche Hölle gegangen." Brigitte Rohr ist ein "Conti", wie sie selbst sagt. Ein contergangeschädigter Mensch. An diesem Samstag, dem 27. November 2021, ist es genau 60 Jahre her, dass das Medikament des Herstellers Grünenthal vom Markt genommen wurde. Als Schlaf- und Beruhigungsmittel für schwangere Frauen vermarktet, führte es zu massiven gesundheitlichen Schäden bei Säuglingen. Rund 10.000 Kinder kamen weltweit mit schweren Missbildungen zur Welt, viele starben. Rohr ist mit Fehlbildungen an Armen und Beinen geboren – doch sie lebt bis heute. Was angesichts ihrer Geschichte ein kleines Wunder ist.
Als ihre Mutter mit ihrem Vater zusammenkam, hatte diese bereits drei Kinder. Ihren ersten Mann habe sie sehr geliebt, weiß Brigitte Rohr über ihre Mutter zu berichten. Doch die Schwiegereltern hätten es mit aller Kraft geschafft, die Ehe zu zerstören. Mit ihrem neuen Mann habe sie keine weiteren Kinder mehr haben wollen. Als sie dann doch mit Brigitte Rohr schwanger wurde, versuchte die Mutter, die Schwangerschaft mit der Einnahme von Contergan zu sabotieren. Zu diesem Zeitpunkt war die schädigende Wirkung des Medikaments bereits bekannt. "Sie hat vermutlich gebetet, dass ich sterbe. Aber ich war einfach zu stark, zu neugierig auf dieses Leben", sagt Brigitte Rohr. Ein Leben, das ihr schon bald viele Schmerzen bereiten sollte. Die ersten sieben Jahre verbringt Brigitte Rohr fast komplett im Krankenhaus. Die Ärzte versuchen, einen ihrer Füße zu begradigen, damit sie vielleicht doch gehen lernen kann. Doch die OP geht schief und der Fuß wächst nicht mehr richtig an.
Erste Gewalt mit sechs Monaten erfahren
Die Ärzte im Krankenhaus merken schnell, das etwas nicht stimmt. Schon als kleines Kind hat Brigitte Rohr viele Hämatome am Körper. Wie sich herausstellt, durch die gewalttätigen Übergriffe des Vaters. Später erfährt Rohr von ihrer Mutter, dass sie schon mit sechs Monaten den ersten "harten Kontakt" mit ihrem Vater gehabt habe. Damals soll er sie einen halben Meter ins Kinderbett geschmissen haben.
Mit sieben muss Brigitte Rohr endgültig ihre Wohlfühlzone Krankenhaus verlassen – dort, wo sie Liebe und Zuneigung erfährt – und zieht zu ihren Eltern. Ihr Vater prügelt sie regelmäßig windelweich, im Glauben, seine Tochter hart fürs Leben machen zu müssen. Als Brigitte Rohr neun Jahre alt ist, ihr Vater will sie wieder einmal verdreschen, bekommt er im Kampf nur ihren Fuß zu fassen – und reißt ihn ab. Es war der, der nicht richtig operiert worden war.
Geschichten wie diese kennt Udo Herterich zu Genüge. Herterich ist Vorsitzender des Interessenverbands Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e.V. und selbst Betroffener. In den vergangenen Jahrzehnten habe sich bei vielen Geschädigten Wut aufgestaut, sagt Herterich. Die Geschädigten kämpfen oft an zwei Fronten, emotional in der Verarbeitung der seelischen Schäden, aber auch juristisch gegen Grünenthal.
Erst 1970 – der Hersteller hatte einen Zusammenhang zwischen Contergan und Missbildungen bei Säuglingen lange verleugnet – einigte sich Grünenthal mit den Eltern der Geschädigten auf einen Vergleich. 100 Millionen Mark zahlte Grünenthal in die neu gegründete Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" ein. Der Staat schoss weitere hunderte Millionen Mark zu. Dafür erloschen jegliche weitere Ansprüche der Kläger. Diese sogenannte Ausschlussfrist wurde erst 2009 aufgehoben. Heute heißt die Stiftung schlicht Conterganstiftung, Geschädigte können wieder vor Gericht ziehen. Alle Klagen gehen gegen die Conterganstiftung. Diese erkenne viele der Klagen aber nicht an, kritisiert Herterich. Wohl auch, weil die Stiftung zu Hauptteilen mit staatlichen Stellen besetzt sei.
Grünenthal schob Schuld auf die Eltern
Was fast gänzlich unbekannt ist: In Brasilien kommt Contergan noch heute bei schwangeren Frauen zum Einsatz. Der Wirkstoff Thalidomid ist dort aufgrund seiner Wirksamkeit gegen Lepra gefragt. Auch in Mexiko greifen schwangere Frauen auf Thalidomid zurück. Weil sie oft Analphabetinnen sind oder kein ausgeprägtes Allgemeinwissen haben, wissen sie es nicht besser. Die Folge: Dort kommen immer noch Kinder mit schweren Fehlbildungen auf die Welt.
Als sich Anfang der 60er Jahre die ersten Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Medikament und Missbildungen ergaben, schoben Staat und Grünenthal die Schuld den Eltern zu. Diese sollen einen ungesunden Lebensstil geführt haben. Oder genetische Faktoren sollen der Grund gewesen sein. "Die Angehörigen hatten das Gefühl: Es war nie jemand auf unserer Seite", sagt Herterich.
Der Frust wurde nicht selten auf die eigenen Sprösslinge projiziert. Manche Kinder wurden Opfer von Gewalt und Demütigungen. Andere wurden in Schweineställen oder Kisten versteckt, man wollte sich vor der Öffentlichkeit nicht bloßstellen. Auch Brigitte Rohrs Eltern hielten ihr Kind vor den Nachbarn geheim. Es durfte immer nur nachts aus dem Haus. Bis sie eines Tages aus Versehen die Rollladen nicht richtig herunter ließen und die Nachbarn das Mädchen entdeckten. Nun mussten die Eltern zugeben, dass sie ein behindertes Kind haben. "Meine Mutter spielte vor anderen Menschen immer die liebende Mama. Dann wurde ich mal über den Kopf oder die Wange gestreichelt. Doch zu Hause hat sie mich getreten und sehr oft auf den Kopf geschlagen."
Im Januar 1980 stirbt Brigitte Rohrs Vater durch Komplikationen bei einer Nieren-OP. Der Terror ihrer Mutter geht weiter, doch Brigitte Rohr kämpft sich durch. Sie holt ihren Hauptschulabschluss nach, macht den Führerschein und beginnt, in der Adressverwaltung zu arbeiten. Sie zieht sogar in eine eigene Wohnung, direkt gegenüber der Wohnung der Mutter.
Zum letzten Mal Schläge
Das gibt ihr Selbstvertrauen. Sie ist 26, als ihre Mutter sie das letzte Mal schlägt. "Ich kam gerade vom Job zurück und war hundemüde, da schlug sie im Hausflur zu. Da habe ich mir gedacht: Jetzt musst du was tun. Ich habe ihr in die Augen geguckt und gesagt: 'Wenn du mich noch einmal schlägst, bringe ich dich in den Knast. Dann werde ich auch den Nachbarn sagen, dass du mich nur geschlagen hast.' Von da an hat sie es auf die psychische Art probiert. Hat Sachen gesagt wie: 'Ich hätte dich schon als Kind töten sollen. Wenn du stirbst, dann tanze ich auf deinem Grab.'" 2007 stirbt ihre Mutter im Krankenhaus. In den letzten Momenten ist die Tochter nicht mehr mit am Bett. "Ich wollte mir das nicht angucken. So nah stand ich der Frau jetzt nicht, dass ich ihr jetzt noch beim Sterben zusehe."
Brigitte Rohr braucht ein Jahr, um sich emotional zu ordnen. Doch dann beginnt sie erstmals, ihr Leben zu genießen. Feste wie Weihnachten zu zelebrieren. Als sie 2017 nach 35 Jahren ihren geliebten Job aus gesundheitlichen Gründen an den Nagel hängen muss, wirft sie das zwar aus der Bahn. Doch sie bekommt Assistentinnen und eine Haushaltshilfe an die Seite gestellt, die sie bei den Alltagsaufgaben unterstützen. Ihre Augen fangen an zu leuchten, wenn sie darüber spricht. "Das ist etwas ganz Tolles und Edles", schwärmt sie. Früher durfte sie drei Tage im Voraus nur ein Glas Wasser am Tag trinken, wenn sie rausgehen wollte. Denn draußen kann sie nicht alleine auf die Toilette gehen. Heute, mit Hilfe, sei das kein Thema mehr.
„Warum soll ich es mir schwerer machen? Es ist schwer. Aber ich versuche jedes Mal, mich rauszukämpfen.“
Neben ihrer Erwerbstätigenrente von 750 Euro bekommt sie von der Conterganstiftung eine Entschädigungsrente von mehreren tausend Euro. Sie könne zwar auf alles verzichten, wenn ihr etwas wichtig sei, sagt sie. "Meine Mutter hat immer gesagt: Du bist wie dein Vater. Du kannst aus einer Mark zwei machen." Doch heute gönne sie sich auch mal etwas. Ihre Schwäche? "Ich kaufe ohne Ende Klamotten."
Man habe ja nur dieses eine Leben, sagt Brigitte Rohr. "Warum soll ich es mir schwerer machen? Es ist schwer. Aber ich versuche jedes Mal, mich rauszukämpfen. Ich habe 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr Schmerzen. Manchmal sind sie stärker und manchmal schwächer." Viele Leute fragten sie, wie sie ihr Leben so sehr lieben könne. "Ich sage immer: Mir hilft, zu sehen, dass es immer einen Menschen gibt, dem es noch schlechter geht."
Vorfreude auf Weihnachten
Sie selbst habe bis 50 warten müssen, ehe es ihr mental besser ging, sagt Brigitte Rohr. Mittlerweile habe sie sich "einen kleinen, aber elitären Freundeskreis" aufgebaut und gehe positiv durchs Leben. Nur eine Sache störe sie noch: "Wenn ich mit den Leuten telefoniere, sagen die immer: 'Sie sind aber gut drauf, so witzig und spritzig.' Aber wenn sie mich sehen: das Schweigen im Walde." Da hilft nicht mal ihre kölsche Frechdachsigkeit.
Auf eine Sache freut sich Brigitte Rohr gerade ganz besonders. Zum ersten Mal seit 14 Jahren wird sie Heiligabend nicht alleine verbringen. All ihre Freunde werden kommen. Fast alle sind verheiratet. Bei einer Freundin sei sie auch Trauzeugin. "Ausgerechnet ich, die vehement was gegen Heiraten hat", kommentiert sie lachend. Extra fürs Fest habe sie sich ein zwölfteiliges Weihnachtsgeschirr von Villeroy und Boch gegönnt, sagt Brigitte Rohr. "Jedes Jahr immer ein Stückchen mehr."