Ein Tag mit einem Großstadtpfarrer
Die Kreuzung Mehringdamm/Yorckstraße im Berliner Ortsteil Kreuzberg ist ein wenig einladender Ort. Vor der Kulisse überwiegend trister Wohn- und Geschäftshäuser geht es am Treffpunkt der beiden vielbefahrenen Hauptstraßen laut und hektisch zu. Eine scheinbar unendliche Schlange von Autos, Bussen und LKWs dominiert die Szenerie, während Fußgänger und Radfahrer versuchen müssen, sich zwischen den Fahrzeugen, umgestürzten E-Scootern und Müll auf Geh- und Radwegen ihren Weg zu bahnen.
Doch wie so oft in Berlin: Nur wenige Schritte von der unwirtlichen Kreuzung entfernt wartet bereits eine ganz andere Welt – und in diesem Fall sogar eine kleine katholische Oase. Ihr Zentrum ist die Kirche St. Bonifatius, deren Doppelturmfassade bereits seit über 100 Jahren den Himmel über Kreuzberg prägt. Während das Gotteshaus an der Yorckstraße an diesem regnerischen Herbstmorgen noch verschlossen ist, steht die Toreinfahrt neben der Kirche weit offen. Wer durch sie hindurchgeht, steht unvermittelt in einem idyllischen Hinterhof, der von der Rückseite des neugotischen Kirchenbaus, einer im gleichen Stil errichteten Wohnanlage und hohen Bäumen geprägt ist und in dem vom Lärm der Straße kaum etwas zu hören ist.
Ein beleuchtetes Fenster im Hinterhof
Hinter einem beleuchteten Erdgeschossfenster im hinteren Teil des Hofs sitzt an diesem Morgen um 8.30 Uhr Oliver Cornelius. Der 48-Jährige ist seit neun Jahren Pfarrer in der Gemeinde St. Bonifatius und will katholisch.de an diesem Tag zeigen, wie sein Alltag als Großstadtseelsorger aussieht. Ein Ort, der dabei eine wichtige Rolle spielt, ist das Zimmer hinter dem beleuchteten Erdgeschossfenster. Es beherbergt das von einem großen Schreibtisch dominierte Büro des Pfarrers, das der gebürtige Berliner im Laufe des Tages immer wieder aufsuchen wird, um zwischen zwei Terminen schnell ein bisschen Büroarbeit und dringende Telefonanrufe zu erledigen.
Während der Schreibtisch dabei mit einem Computer, zahlreichen Unterlagen, einem Kreuz und einer Marienfigur zwar ziemlich voll, insgesamt aber ordentlich sortiert wirkt, macht das restliche Büro einen eher unaufgeräumten Eindruck. Alte, nicht zueinander passende Möbel, eine Kleiderstange mit liturgischen Gewändern, nicht aufgehängte Bilder auf dem Boden und Cornelius' grünes Fahrrad stehen anscheinend willkürlich verteilt in dem ziemlich dunklen Raum herum.
Die Zeit vor dem ersten offiziellen Termin an diesem Tag nutzt Cornelius, um die Struktur seiner Pfarrei zu erläutern. Denn die hat sich am 1. Januar dieses Jahres grundlegend geändert. Seither ist St. Bonifatius Teil der neu errichteten Großpfarrei Bernhard Lichtenberg, die sich von Kreuzberg über Mitte bis nach Prenzlauer Berg und damit fast über das gesamte Zentrum der Bundeshauptstadt erstreckt. Als Leitender Pfarrer ist Cornelius damit für 26.000 Katholiken (in St. Bonifatius waren es vorher nur 8.500) und acht Gottesdienstorte auf dem Gebiet von vier zuvor eigenständigen Pfarreien mit je unterschiedlichen Traditionen und Profilen zuständig.
Dienstbesprechung mit neun Mitarbeitern
Weil die Errichtung der neuen Pfarrei noch kein Jahr zurückliegt, "ist vieles noch im Werden", erzählt Cornelius. Rund 50 Prozent seiner Arbeitszeit verwende er derzeit auf Maßnahmen zum Teambuilding und das Entwickeln einer gemeinsamen Kultur. "Es geht darum, sich gegenseitig kennenzulernen, Leute ins Boot zu holen, Schwerpunkte zu setzen", beschreibt der Pfarrer den Prozess des Zusammenwachsens, für den die Verantwortlichen das Leitmotiv "Gemeinsam. Christ sein. In der Stadt." ersonnen haben.
Kurz vor 9 Uhr drängt Cornelius dann zur Eile, die wöchentliche Dienstbesprechung steht an. Dafür geht es über den Innenhof in den modernen Pfarrsaal, in dem sich an diesem Morgen neun Mitarbeiter der Pfarrei einfinden – darunter die beiden Gemeindereferentinnen, der Kirchenmusiker und zwei Pfarrsekretärinnen. Nach einem Gebet sprechen die Teilnehmer in einem einstündigen Parforceritt über aktuelle Themen in der Pfarrei. Neben lokalen Projekten wie der Firmvorbereitung und der nächsten Ministrantenfahrt geht es auch um überdiözesane Großthemen wie den Synodalen Weg der Kirche in Deutschland und den von Papst Franziskus angestoßenen weltweiten synodalen Prozess. Zwar spiele der Synodale Weg in der Pfarrei keine große Rolle, erzählt Cornelius. Gleichwohl hätten die Gläubigen angesichts des schlechten Zustands der Kirche natürlich Fragen. "Meiner Meinung nach brauchen wir ein Forum für den Austausch mit den Gläubigen zu diesen Fragen", regt der Pfarrer an. Als Pfarrei müsse man die Unsicherheiten der Menschen im Blick auf die Kirche ins Wort bringen.
Nach der Dienstbesprechung zieht sich Cornelius für ein Sechs-Augen-Gespräch mit den beiden Gemeindereferentinnen zurück, um ein anstehendes Mitarbeitergespräch vorzubereiten. Unmittelbar danach wartet schon das nächste – allerdings ungeplante – Gespräch auf den Pfarrer. Eine ältere Frau ist ins Pfarrbüro gekommen, weil sie Geld für die Beerdigung ihres Lebensgefährten braucht. Cornelius nimmt sich Zeit für das Gespräch, macht der Frau aber schnell klar, dass er ihr keinen Zuschuss geben kann; er dürfe das Geld der Pfarrei für solche Zwecke nicht herausgeben. Stattdessen verweist er auf andere Unterstützungsmöglichkeiten und ruft beim zuständigen Bestattungsunternehmen an.
Auf den ersten Blick nicht als Pfarrer erkennbar
Cornelius, das wird in dem Gespräch mit der älteren Frau und auch bei anderen Terminen an diesem Tag deutlich, ist ein Machertyp, einer, der Probleme lösen will – und das möglichst ohne große Umwege. Kein Wunder, schließlich ist der Arbeitstag des Pfarrers eng getaktet. Für Momente der Ruhe oder einen Plausch mit den Mitarbeitern bleibt zumindest am Vormittag kaum Zeit. Trotzdem beklagt sich Cornelius nicht – im Gegenteil. Dank der neuen Großpfarrei hat er inzwischen einen Verwaltungsleiter an seiner Seite, der ihm viele administrative Tätigkeiten abnimmt und ihn bei der Leitung der fast schon einem mittelständischen Unternehmen gleichenden Pfarrei unterstützt. "Ich bin heilfroh, dass ich viele Verwaltungsaufgaben abgeben kann. Das ist nicht mein Job, das habe ich nicht studiert", sagt Cornelius. Er selbst könne sich dadurch stärker seelsorglichen Aufgaben widmen.
Auf den ersten Blick als katholischer Geistlicher erkennbar ist Cornelius dabei allerdings nur im Gottesdienst. Außerhalb der Kirche trägt er an diesem Tag Jeans und Fleecepullover. Das habe auch mit dem kirchlichen Missbrauchsskandal zu tun, erzählt er. Weil er nach Bekanntwerden des Skandals auf der Straße wiederholt beschimpft und auch bedroht worden sei, trage er heute nur noch selten Kollar. "Als katholischer Priester bist du heute in Sippenhaft. Das ist keine schöne Erfahrung", betont Cornelius.
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Über die verschiedenen Termine und Gespräche ist es Mittag geworden. Cornelius zieht sich für eine kurze Mittagspause in seine Wohnung zurück, die direkt über dem Pfarrbüro liegt. Damit ist Zeit, die inzwischen geöffnete Kirche zu besichtigen. Sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet – zu einer Zeit, als die Zahl der Katholiken in Berlin durch den massenhaften Zuzug katholischer Arbeiter innerhalb weniger Jahre sprunghaft angestiegen war. Für die heutigen Bedürfnisse ist die Kirche dagegen völlig überdimensioniert, die Entfremdung von der Kirche und die hohen Kirchenaustrittszahlen der vergangenen Jahre sind auch in St. Bonifatius spürbar.
Gläubige aus 63 Nationen in der Gemeinde
Damit arbeitet Cornelius jeden Tag. Eine Hauptaufgabe für die Großstadtseelsorge sei es, die Menschen da abzuholen, wo sie seien. "Das klingt banal, ist aber ganz zentral", betont der Geistliche. Man dürfe nicht nur darauf warten, dass die Gläubigen von sich aus aktiv würden, sondern müsse als Gemeinde selbst nach Draußen gehen und versuchen, Engagement zu aktivieren und die Menschen einzuladen. "Das ist ein Grundauftrag an Kirche heute", so Cornelius. Der Standort von St. Bonifatius biete da durchaus Möglichkeiten: "Die Leute fallen quasi vom Gehweg direkt in unsere Kirche. Das ist eine Chance für uns, über die Pfarrei hinaus mit der Stadtgesellschaft in Kontakt zu kommen."
Eine besondere Herausforderung in der neuen Pfarrei sind auch die unterschiedlichen Traditionen und Profile der verschiedenen Standorte. Während etwa in der ebenfalls zur Pfarrei gehörenden Hedwigs-Kathedrale in Mitte die Tourismusseelsorge eine wichtige Rolle spielt, hat sich St. Bonifatius als Kirche im multikulturellen Kreuzberg vor allem der Interkulturalität verschrieben. "Wir sind hier Multikulti, und das bildet sich in der Gemeinde auch ab", sagt Cornelius. Zu St. Bonifatius gehörten Gläubige aus 63 Nationen, die das katholische Leben in der Gemeinde maßgeblich mittrügen. Um diese Vielfalt deutlich zu machen, lese man etwa das Evangelium im Sonntagsgottesdienst immer auch in einer anderen Sprache. "Das soll deutlich machen, dass alle Gläubigen, egal woher sie kommen, dazugehören und in unserer Gemeinde heimisch werden können", betont der Pfarrer.
Dazu zählt auch das Engagement für Geflüchtete, das sich besonders eindrucksvoll im direkt neben der Kirche gelegenen Restaurant "Kreuzberger Himmel" zeigt. In den schicken Räumlichkeiten, die der Pfarrei gehören, arbeiten 20 Geflüchtete aus neun Nationen; mit den Einnahmen des Restaurants wird der Verein "Be an Angel" finanziert, der sich für die Integration von Geflüchteten engagiert. Pfarrer Cornelius ist sichtlich stolz auf das auch international beachtete Restaurant-Projekt – und er nutzt die Räumlichkeiten auch selbst regelmäßig. Unter dem Motto "Was ich schon immer einmal wissen wollte...!" lädt der Geistliche einmal im Monat zum Gespräch über Glaube und Kirche in den "Himmel".
Wortgottesdienst, Seniorencafé und Rosenkranzandacht
War der Vormittag vor allem von administrativen Aufgaben geprägt, steht am Nachmittag die Seelsorge im Zentrum von Cornelius' Wirken. Um 15 Uhr feiert er in der Pfarrkirche einen Wortgottesdienst, zu dem sich 18 Gläubige im weiten Kirchenschiff verlieren. Nach gut 30 Minuten ist der Gottesdienst dann aber auch schon wieder vorbei – schließlich wartet mit dem Seniorencafé im Pfarrsaal bereits der nächste Termin. Vorher läuft Cornelius aber nochmal durch die ganze Kirche und guckt hinter jede Ecke und in jeden Beichtstuhl. "Bevor ich die Kirche abschließen kann, muss ich kontrollieren, ob sich irgendwo noch jemand versteckt hat. Großstadtprobleme...", erläutert der Pfarrer. An diesem Tag ist aber niemand mehr zu sehen und Cornelius eilt schnell zum Seniorencafé, wo er direkt mehrere Gläubige aus dem Gottesdienst wiedertrifft. Zusammen trinkt man Kaffee und isst Kekse, singt Lieder und plant gemeinsame Aktivitäten. Als nächstes, so schlägt Cornelius vor, könne man doch zum Beispiel mal wieder ins Kino gehen.
Doch zunächst steht an diesem Nachmittag noch die Rosenkranzandacht an. Auch hier trifft der Pfarrer vor allem Frauen vom Seniorencafé wieder. Die Andacht selbst hält er "kurz und knackig – so wie wir es lieben". Währenddessen fängt es draußen an zu dämmern, der Tag neigt sich langsam dem Ende zu. Für Pfarrer Cornelius ist trotzdem noch nicht Schluss. Auf ihn wartet zum Abschluss des Tages noch ein Taufgespräch. Immer noch voller Elan schwingt sich der Geistliche dazu am Abend auf sein im Büro wartendes Fahrrad und fährt los.