Alttestamentlerin Elisabeth Birnbaum über gute Exegese

Heilkraut oder Unkraut? Der Streit um die richtige Bibelauslegung

Veröffentlicht am 31.12.2021 um 12:29 Uhr – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Worauf kommt es bei guter Exegese an: den Autor, das Werk – oder gar die Leser? Das Ringen wird mit harten Bandagen geführt und treibt manchmal auch seltsame Blüten. Im Bild des Kräutergartens findet Elisabeth Birnbaum einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Einseitigkeit und Beliebigkeit.

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Was ist die Aufgabe der Exegese, also der wissenschaftlichen Bibelauslegung? Vor allem wohl die, den Sinn eines biblischen Textes herauszuarbeiten. Aber den einen Sinn des Textes gibt es bekanntlich nicht. Texte sind per se mehrdeutig. Was kann Exegese angesichts der Vielfalt der Verstehensmöglichkeiten also tun? Darüber ist sich die Bibelwissenschaft in keiner Weise einig. Einige stellen die Textentstehung in den Vordergrund ihrer Fragen. Für andere ist es der (End-) Text selbst, der Gegenstand der Untersuchung sein soll. Eine dritte Gruppe nimmt diejenigen in den Blick, die den Text gelesen haben und lesen, und fragt nach deren Verständnis und somit nach der Textrezeption im Laufe der Zeit. Welchem dieser Zugänge ist der Vorzug einzuräumen? Oder anders gefragt: Wonach sollte man suchen, wenn man den Sinn des Textes eruieren möchte? Nach dem, was die Verfasser damit sagen wollten? Oder danach, was der Text selbst sagen will? Oder aber danach, wie ihn die ersten/weiteren/heutigen Leser und Hörer verstanden haben und verstehen?

Die "intentio auctoris"

Einen Text sachgemäß auszulegen, so ist oft zu hören, gelingt nur, wenn man weiß, was der Verfasser damit sagen wollte. Lange Zeit wurde als Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Bibelauslegung denn auch die Rekonstruktion der Aussageabsicht des Verfassers, der sogenannten intentio auctoris verstanden. Der Sinn eines Werkes ist dabei gleichbedeutend mit dem Sinn, den der Autor einem Text gegeben hat. Die Vorteile liegen auf der Hand: die Unabhängigkeit von traditionellen, dogmatischen oder zeitgenössischen Interessen, das Ernstnehmen des historischen Kontextes, in dem die Bibel entstanden ist, und die dadurch mögliche Eingrenzung der Deutungsmöglichkeiten auf eine einzige Deutung. Die Nachteile des Zugangs sind ebenso deutlich.

Bild: ©Renáta Sedmáková/Fotolia.com

Zählt bei der Bibelauslegung vor allem die Aussageabsicht des Verfassers?

1) Zunächst erheben sich pragmatische Probleme: Die intentio auctoris biblischer Verfasser ist schlicht nicht einholbar. Das gilt sogar für zeitgenössische Werke, wenn sich der Verfasser nicht selbst dazu geäußert hat, umso mehr gilt das für Werke, deren Verfasser nicht greifbar sind und oft nicht einmal zeitlich mit Sicherheit eingeordnet werden können. Und noch einmal mehr gilt das für Texte mit langer Wachstumsgeschichte. Denn: Welche intentio sollte da eingeholt werden? Die des ersten Verfassers? Die des zweiten? Die des letzten Bearbeiters oder Redaktors? Oder die intentio derer, die die Vielzahl einzelner Schriften zu einem Kanon zusammenstellten und dadurch weitere, zusätzliche Sinnpotentiale erschufen? Und welcher gebührt im Falle von Differenzen der Vorzug?

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die biblischen Verfasser offenkundig nicht als Verfasser in modernem Sinn verstanden. Sie schrieben meist nicht unter eigenem Namen und machten sich auch sonst keine Mühe, der Leserschaft die Suche nach ihrer Identität zu erleichtern. So stellt sich die provokante Frage: Wieso sollten die Verfasser und ihre Intention derart wichtig, ja maßgeblich für die Bibelauslegung sein, wenn es offenbar ihre Intention war, uns eben diese nicht mitzuteilen? Müsste man also nicht gerade, um die intentio auctoris hochzuhalten, ihre Intention, nicht in Erscheinung zu treten, respektieren?

2) Noch weiter geht der Einwand der Literaturwissenschaft. Peter Szondi etwa erinnert daran, dass es immer unser eigener Blick ist, mit dem wir sehen, auch auf einen Verfasser der Vergangenheit; dass also auch hier eine hundertprozentige Objektivität nicht erreichbar ist. Jeder Glaube daran, den "ursprünglichen", verfassergemäßen Sinn objektiv zu erfassen, ist seiner Meinung nach Selbsttäuschung.

3) Ein drittes Problem der Vorrangstellung der intentio auctoris besteht darin, dass sich die Aussageabsicht eines Verfassers oft sehr grundlegend vom Verständnis der Leser-/Hörerschaft unterscheiden kann. Flapsig ausgedrückt: Die schönste Aussageabsicht des Autors ist im Grunde irrelevant, wenn niemand sie versteht. Mit Gadamer lässt sich daher sagen: Der wirkliche Sinn eines Textes ist keineswegs der, den der Verfasser intendierte. Er entfaltet sich vielmehr erst schrittweise, "im Durchgang durch ... eine (tendenziell unendliche) Reihe von Interpretationen hindurch, die ihrerseits – direkt oder indirekt – auch den gegenwärtigen Interpretationsansatz mitbestimmen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber ... kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß." Gadamer lehnt die intentio auctoris ab, nicht nur, weil sie nicht einholbar ist, sondern weil der Autor gewissermaßen auch nur einer von mehreren Interpreten des Textes ist.

Die "intentio operis"

Aus diesen Gründen wird häufig die Suche nach einer intentio auctoris durch die Suche nach der Aussageabsicht des Werkes, der intentio operis, ersetzt. Diese Suche sieht den Sinn des Textes darin, was sich im Text zeigt, als Zeichensystem zum Ausdruck bringt – und das kann die intentio auctoris überschreiten. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Text Sinnebenen transportiert, die von den Verfassern nicht bewusst hineingelegt wurden, oder wenn infolge einer ungeschickten Ausdrucksweise das eigentlich Gemeinte im Text nicht deutlich wird.

Die Qumran-Schriftrollen.
Bild: ©byjeng/Fotolia.com

Ist vielmehr die Aussageabsicht des Werkes entscheidend?

Bei der Suche nach der intentio operis wird daher auf Textmerkmale geachtet, die quasi selbstverständlich beim Lesen ins Auge springen müssten. Umberto Eco spricht dabei von einem "idealen Leser", der all diese Textmerkmale auch erkennen kann. Eine solche Lektüre bewegt sich sehr nahe am Text und untersucht sehr genau, wie dieser seine Inhalte vermittelt. Doch auch hier gilt der Einwand Gadamers und der Einwand Szondis: Wieder ist es der eigene subjektive Blick auf den Text, der entscheidet, was sich im Text zeigt. Peter Szondi lehnt daher auch die intentio operis ab. Vertretern der werkimmanenten Interpretation wirft er vor, sich zu wenig um die Bedingungen des Verstehens zu kümmern, aber dennoch zu behaupten, Werke aus sich heraus verstehen zu können. Ohne wie Peter Szondi die intentio operis verwerfen zu müssen, muss man sich demnach ihrer Grenzen bewusst sein und sich davor hüten, die eigenen Erkenntnisse zu verabsolutieren.

Die "intentio lectoris"

Die jüngste Ausrichtung sucht den Sinn eines Textes in den Lesenden selbst, in der intentio lectoris. Da das Verstehen von Texten immer subjektiv ist und immer erst im Lesen selbst entsteht, muss die Rolle der Lesenden ernst genommen werden. Dazu kommt, dass ein solches Verstehen auch immer von den eigenen kulturellen, geschichtlichen, sozialen, ökonomischen und geographischen Umständen abhängt. Diese Einsicht, wie wichtig der Kontext für die Auslegung ist, machte gewisse Einseitigkeiten der Interpretation erst bewusst – etwa die, dass Bibelauslegung seit Jahrhunderten vornehmlich von weißen Männern betrieben wurde – und bewirkte ein Umdenken:

Die feministische Bibelauslegung stärkte die Sicht auf Frauen in der Bibel, rund um die Bibel und in der Bibelauslegung selbst, die häufig marginalisiert oder ignoriert wurden. Die postkolonialistische Bibelauslegung zeigte die Notwendigkeit, die blinden Flecken der herkömmlichen Exegese gerade in Bezug auf außereuropäische Kontexte zu erhellen. Und die Disability Studies richten ihren Blick auf Menschen mit Einschränkungen und bringen wieder neue Sichtweisen zutage. Erste Ansätze, die dadurch entstehende Pluralität ernst zu nehmen, zeigen sich bei Uwe Japp. Er reflektiert Gadamer, fordert aber darüber hinaus eine "Hermeneutik der Entfaltung", die Mehrdeutigkeit in der Textinterpretation zulässt. Ziel der Auslegung ist also nach Japp die Entfaltung des Textpotentials. Dabei muss die Interpretation sich ihrer Vorläufigkeit bewusst sein und in intensivem Dialog zwischen Text und Rezipienten stehen.

Afrikanische Frauen singen und schlagen eine Trommel
Bild: ©Harald Oppitz/KNA

Nicht immer weiß und männlich: andere Kontexte – andere Bibelauslegungen.

Die große Sorge, die viele angesichts einer Vorrangstellung der intentio lectoris bewegt, ist, dass auf diese Weise alle möglichen und unmöglichen Textverständnisse gleichwertig sind, also der biblische Text der Willkür der Lesenden ausgesetzt sein könnte. Im Hintergrund steht die leidvolle Erfahrung, dass Bibelauslegungen immer wieder für eigene Interessen und gegen andere Menschen verwendet wurden. Das Ringen mit der Gefahr einer solchen verheerenden Willkür ist vielen Bibelwissenschaftler denn auch deutlich anzumerken.

So anerkennt etwa Gerd Theißen eine gewisse Vielfalt von Auslegungen, betont aber gleich darauf, dass nicht alle, sondern nur einige Auslegungen möglich sind und es Aufgabe der Wissenschaft ist zu klären, welche wahrscheinlicher, unwahrscheinlicher oder gleich wahrscheinlich sind. Auslegungsprobleme ließen sich so argumentativ bearbeiten. "Das erspart hermeneutische Bürgerkriege." Ulrich Luz kann gegenüber Theißen noch einen Schritt weitergehen und die Pluralität auch unabhängig vom Urteil der Bibelwissenschaft befürworten, bevor auch er Einschränkungen vornimmt: "Eine Pluralität von Interpretationen möchte ich also bejahen; nur eine grenzenlose Beliebigkeit, welche nach der Alterität der Texte nicht mehr zu fragen braucht und einen Dialog über sie unnötig macht, lehne ich ab."

Angemessene Interpretationen und Grenzen der Beliebigkeit

Alle diese neuen Zugänge zeigen, dass Bibelauslegung vielfältig sein kann und muss und nicht auf die Erkenntnisse einer einzigen Auslegungsgemeinschaft beschränkt werden darf. Erst dadurch wird der überschießende Sinn des Textes in all seinem Reichtum erkennbar. Statt die "eine, wahre" Auslegung gegen andere "falsche" abzugrenzen, spricht heutige Bibelwissenschaft daher auch von "angemessener" oder "textgemäßer" Auslegung.

„Im Anschluss an Gilles Deleuze verwendet Breed das Bild eines Bären, der schlafen, laufen, töten oder essen kann, ohne alles zugleich tun zu können oder zu müssen.“

—  Zitat: Elisabeth Birnbaum

Für das Problem der grenzenlosen Beliebigkeit bietet Brennan W. Breed eine wertvolle Hilfe an: die Untersuchung der Rezeptions- und Auslegungsgeschichte. Er nimmt ernst, dass die Bibel selbst ja auch schon Rezeption ist, und empfiehlt eine Untersuchung des Potentials des Textes, das es so gut wie möglich zu beschreiben gilt. Dabei zeigt sich, dass es viele mögliche Deutungen, aber nicht beliebig viele Deutungen gibt. Jede Auslegung aktualisiert nur eine der möglichen Deutungen. Im Anschluss an Gilles Deleuze verwendet Breed das Bild eines Bären, der schlafen, laufen, töten oder essen kann, ohne alles zugleich tun zu können oder zu müssen. Dieses Potential des Bären sei wichtig zu wissen, um sich ihm gegenüber richtig zu verhalten (etwa ihm nicht zu nahe zu kommen, selbst wenn er schläft). Wenn es aber die Aufgabe der Exegese ist, dieses Potential des Textes zu entfalten, muss sie so gut wie möglich informiert sein über die Vielfalt des Textes.

Brennan W. Breed empfiehlt daher, die unterschiedlichen Auslegungen wie eine Schafherde zu beobachten und zu beschreiben, wann, warum und durch wen veranlasst sich die einzelnen Schafe einmal hier, einmal dort in Gruppen niederlassen und manchmal vom Hirten auch durch einen Pflock gehindert werden müssen, zu nah am Abgrund zu gehen.

Ein weiteres Kriterium, das Breed in seinem Aufsatz vorstellt, ist die Frage: "What can this text do?" Diese Frage, wozu ein Text fähig ist, können jene, die den Text produziert haben, nicht beantworten, weil sie noch nicht wussten, was aus diesem Text werden würde. Schon deshalb ist es wichtig, frühere Auslegungen und Interpretationen des Textes nicht nur als museale Sammlung anzusehen, sondern als relevantes Informationsmaterial über seine möglichen Bedeutungsspektren.

Das Bild vom Kräutergarten

Der folgende Vorschlag für einen heutigen, angemessenen Umgang mit dem Bibeltext führt die Gedanken Breeds weiter und spannt den Bogen zurück zur Frage, was die Aufgabe der Exegese ist. In meinem Bild vergleiche ich die Deutungen eines Bibeltextes mit einem Kräutergarten. Der Text ist in diesem Bild der Boden eines Kräutergartens, in dem zahlreiche Samen – sprich: Deutungsmöglichkeiten – enthalten sind. Die Verfasser sind jene, die den Garten angelegt und dafür den Boden aufbereitet haben.

Wie viele Deutungsmöglichkeiten es gibt, hängt von der Fruchtbarkeit des Bodens/Textes ab. Es gibt Texte, die sehr "fruchtbar" sind und viele solche Deutungsmöglichkeiten in sich tragen und andere, die nur eine bis zwei zulassen. Dementsprechend wenige/viele Deutungsmöglichkeiten entstehen. Gleichzeitig ist aber auch klar: Dem Text können nicht alle möglichen Deutungsmöglichkeiten entsprießen, sondern nur einige (wenn auch vielleicht mehr, als manchen lieb ist). Damit relativiert sich die Gefahr der Willkür ein wenig. Die Samen/Deutungsmöglichkeiten, die im Text angelegt sind, können von den Bodenbereitern, sprich: Verfassern bewusst hineingelegt worden sein, können aber auch auf andere Weise (Wind) hineingelangt sein. Je mehr Deutungsmöglichkeiten im Text angelegt sind, desto schwieriger ist es, Rückschlüsse auf die Absichten der Bodenbereiter zu machen.

Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Keine Angst vor Vielfalt: Je fruchtbarer der Textboden, desto zahlreicher die Deutungsmöglichkeiten.

Unabhängig von diesen Absichten der Verfasser: Welche Samen tatsächlich aufgehen und Kräuter, sprich: Auslegungen her­vorbringen, hängt vor allem vom Klima und der aktuell herrschen­den Wetterlage ab. Das Klima meint die allgemeinen, generellen Zeitumstände: Es macht einen Unterschied, ob die Bibel in der Antike oder in der Moderne, in Kriegs- oder Friedenszeiten, in schwierigen oder einfachen Zeiten ausgelegt wird. Die aktuelle Wetterlage steht für die persönliche Situation und Verfasstheit der Ausleger, ihre Vorannahmen, Betroffenheiten und Interes­sen. Je nachdem, ob die Auslegenden zur Unter- oder Oberschicht gehören, Frauen oder Männer sind, bedroht werden oder frei sind, religiös verfolgt werden oder nicht etc., wird ihr Blick auf die Bibel ein anderer sein.

Im Lauf der Zeit haben sich Zeitumstände und konkrete Auslegungs­situationen immer wieder verändert. Daher gibt es zu unterschied­lichen Zeiten ein unterschiedliches Spektrum an Pflanzen (= Aus­legungen eines konkreten Bibeltextes) im Kräutergarten. Manche Pflanzen haben sich durchgesetzt, andere sind verkümmert, manche sind erstmals dem Boden entsprossen. Manche sind tief verwurzelt im Boden, manche nur flach, manche sind für diesen Boden wie geschaffen, manche gedeihen nur schwer darin.

Was ist nun die Aufgabe der Exegese in diesem Kräutergarten?

Zunächst gilt es, Kräuterexpertise zu erlangen. Dazu gehört:

1) Soweit greifbar, nach den Absichten der Samenleger zu fragen, also nach der intentio auctoris: Haben diese den Boden bereits weitgehend vorgefunden oder haben sie ihn selbst neu aufbereitet – und warum? Welche Pflanze haben sie sich erhofft? Wollten sie nur eine bestimmte Pflanze setzen oder haben sie bewusst mehrere Samen gelegt?

2) Die Bodenbeschaffenheit und die Samen zu prüfen, das entspricht in gewisser Weise der Suche nach der intentio operis. Welche Samen sind im Boden enthalten, welche sind häufiger, welche seltener, welche sind lebenskräftig, welche eher empfindlich?

3) Auf die Kräuter selbst zu blicken, also auf das, was diesem Boden entsprossen ist: auf die Deutungen selbst, und das in mehrfacher Hinsicht: Was sind die klimatischen/kontextuellen Bedingungen, unter denen die Deutungen gediehen sind bzw. gedeihen? Welche Zeitumstände brachten welche Deutungen hervor? Welche Wetterlage bekommt welchem Kraut? Wer hat ein bestimmtes Kraut (= eine konkrete Textauslegung) wann und zu welchem Zweck verwendet? Es gilt also, möglichst viele Informationen darüber zu sammeln, wie sich Bodenbeschaffenheit, Samen, Klima und Wetter auf die Kräuter auswirken. Damit ist die Bedeutung der Rezeptions- und Auslegungsgeschichte angesprochen, aber auch die empirische Untersuchung von Deutungen und somit der Versuch, die intentio lectoris besser zu fassen.

4) Darüber hinaus muss sich jede echte Kräuterkunde aber auch mit der Wirkweise der Kräuter befassen und zwischen Heilkräutern und Giftpflanzen unterscheiden lernen. Zu sehen, welche Deutungen unter welchen Zeitumständen gefährlich sind und welche heilsam, ist eine oft vernachlässigte Aufgabe der Exegese.

5) Schließlich ist es ein nicht zu unterschätzender, vielleicht sogar der wichtigste Aspekt, die eigene Rolle zu reflektieren und offenzulegen. In welchem Klima und bei welchem Wetter stehe ich gerade in diesem Kräutergarten? Welche aktuellen Kräuter sehe ich dabei, welche übersehe ich aber vielleicht auch?

Die so erworbene Expertise ist aber kein Selbstzweck. Aufgabe der Exegese ist es, das erlangte Wissen dazu zu nützen, um anderen einen Wegweiser durch den Kräutergarten anzubieten. Gute Exegese versucht nicht, nur eine einzige Pflanze im gesamten Garten zuzu­lassen, nicht einmal, wenn es sich dabei um die älteste oder ursprüng­lichste handelt. Sie gibt situationsadäquate Empfehlungen zuguns­ten geeigneter Kräuter ab und warnt vor anderen. Sie bietet eine begrenzte Vielfalt, eine verantwortete Auswahl an Kräutern und Hinweise zu ihrer Anwendung. So entsteht ein Weg durch den Gar­ten der Deutungen, in dem die Besucher gleichzeitig Sicher­heit und Freiheit haben: Die Sicherheit, dass sie auf diesem Weg zu empfehlenswerten und verträglichen Kräutern geführt werden, und die Freiheit, daraus die zum eigenen Kontext passenden auszuwählen oder sich sogar selbst eine persönliche Kräutermischung zusammenzustellen.

Angezielt ist also eine Bibelauslegung, die Vielfalt zulässt. Eine Bibelauslegung, die ernstnimmt, dass Menschen die Bibel in verschiedenen Kontexten je anders lesen. Und die die Kluft zwischen den wenigen, die "wissen", und den anderen, die sich selbst keine Deutung zutrauen, verkleinert.

Von Elisabeth Birnbaum

Die Autorin

Elisabeth Birnbaum ist promovierte Alttestamentlerin und Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Salomo, die Bücher Judit, Kohelet und Hohelied sowie Fragen der Bibelhermeneutik.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Bibel und Kirche. Die Themenhefte Bibel und Kirche erscheinen viermal im Jahr und informieren über aktuelle Forschungsdiskussionen, spannende kirchliche Entwicklungen und neue pastorale Möglichkeiten mit der Bibel.