Größte Kirchenrechtsreform seit 1983 gilt ab heute

Die Liebeskirche straft wieder: Neues kirchliches Strafrecht in Kraft

Veröffentlicht am 08.12.2021 um 11:20 Uhr – Lesedauer: 

Vatikanstadt ‐ Über zehn Jahre dauerte die Reform des kirchlichen Strafrechts. Ab heute gilt sie für die ganze Weltkirche. Die Kirche soll künftig das Strafrecht stärker nutzen, fordert der Papst – zum Kampf gegen Missbrauch und andere Delikte. Katholisch.de hat alle wichtigen Informationen zusammengetragen.

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Mit dem Inkrafttreten des neuen kirchlichen Strafrechts heute wird ein über zehn Jahre dauernder Prozess abgeschlossen. Besonders unter dem Eindruck der Missbrauchskrise wurde deutlich, dass das kirchliche Recht Defizite hat – materiell wie in seiner Anwendung. Bei der Vorstellung des neuen Buch VI des Codex Iuris Canonici, das das Strafrecht der Kirche umfasst, brachte der Untersekretär des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte, Pater Markus Graulich, die Reform auf den Punkt: "Die Liebeskirche straft wieder" – eine große Kritik an der bisherigen Rechtsanwendung war, dass Strafen und strafrechtliche Verfahren auch vom Rechtstext her als optional und letzte Mittel erschienen. Nun stellen neue Formulierungen klar, dass das Strafrecht auch angewandt werden soll – vor allem im Umgang mit Missbrauchstätern. "Die Nachlässigkeit eines Hirten, wenn es darum geht, das Strafrecht anzuwenden, macht deutlich, dass er seine Aufgabe nicht recht und treu ausübt", betonte Papst Franziskus in der Apostolischen Konstitution, mit der er das neue Recht in Kraft setzte.

Erste Details zum neuen Strafrecht wurden im Frühjahr durch einen öffentlich gemachten Briefwechsel zwischen der Bischofskonferenz von England und Wales und dem Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte bekannt – zentral war darin die Frage, ob die Formulierung "Verstoß gegen das sechste Gebot" zur klareren Fassung von Sexualdelikten geändert werden soll. Letzten Endes blieb es bei der Formulierung – nur so könne die Bandbreite der Taten erfasst werden, es gebe dafür eine etablierte kanonistische Tradition, und schließlich sei "sexuelle Selbstbestimmung" keine Kategorie, in der die Kirche denke, erläuterte Graulich im Interview.

Papst Franziskus schaut am 15. November 2017 im Vatikan auf seine Uhr.
Bild: ©KNA/CNS photo/Paul Haring (Archivbild)

Nach über einem Jahrzehnt war es Zeit für das neue kirchliche Strafrecht. Im Juni veröffentlichte Papst Franziskus mit der Apostolischen Konstitution "Pascite Dominem Gregi" ("Weidet die Herde des Herrn") das neue Buch VI des CIC und legte fest, dass es am 8. Dezember in Kraft treten wird.

Was das neue Strafrecht ändert

Für katholisch.de fasste der emeritierte Würzburger Kirchenrechtler Heribert Hallermann die Änderungen im neuen Strafrecht zusammen. Sein Urteil: Es sei nicht "eine völlige Neuschöpfung, sondern ein Aggiornamento: Es will die entsprechenden Normen auf die Höhe der Zeit bringen, sodass sie den aktuellen Erfordernissen besser entsprechen." Bei aller Kontinuität enthielte das Strafrecht aber bemerkenswerte Neuerungen beim Umgang mit Sexual- und Wirtschaftsdelikten.

Zusammen mit Graulich veröffentlichte Hallermann auch den ersten Kommentar zum neuen Strafrecht. Anlässlich der Veröffentlichung sagte er im Interview mit katholisch.de, dass er auf eine angemessene Umsetzung hoffe, auch durch eine kirchliche Strafgerichtsbarkeit, wie sie derzeit die Deutsche Bischofskonferenz einzurichten plant: "Eine eigene Strafgerichtsbarkeit in Verbindung mit dem neuen Strafrecht sollte auch dem letzten Bischof klarmachen, dass strafrechtliche Lösungen von Missständen legitim und notwendig sind."

Bei katholisch.de erschien auch eine Analyse mit Blick auf die Stärkung von rechtsstaatlichen Elementen und zur Beibehaltung des Konzepts der "Vergehen gegen das sechste Gebot". "Kleine Verbesserungen und viel Hoffnung auf eine bessere Rechtskultur" war das Fazit.

Bewertungen aus der Kirchenrechtswissenschaft

Einschätzungen aus der Wissenschaft fielen eher kritisch aus. So merkte der Freiburger Kanonist Georg Bier an, dass die nicht-katholische Taufe als Straftat gewertet wird. Das werde der Wirklichkeit konfessionsverbindender Ehen "nicht unbedingt gerecht"; ansonsten bezeichnete er die Reform als "im Großen und Ganzen sinnvoll und hilfreich".

Die Bochumer Kirchenrechtlerin Judith Hahn sah durch die Reform des kirchlichen Strafrechts systemische Schieflagen in der Kirche gestärkt. "Missbrauchsförderliche systemische Faktoren" blieben bestehen. Weiterhin liege alle Gewalt in den Händen "einer exklusiv männlichen Herrschaftselite", systemische Faktoren des Missbrauchs würden nicht adressiert.

Eher verhalten äußerte sich der Tübinger Kanonist Bernhard Sven Anuth. Das neue Strafrecht sei kein großer Wurf. "Ein scharfes Schwert war und ist das kirchliche Strafrecht nur für diejenigen, die in einem existenziellen Abhängigkeitsverhältnis von der Kirche stehen, also Kleriker oder andere kirchlich Beschäftigte – und für die, die sich von geistlichen Strafen innerlich treffen lassen wollen", betonte der Tübinger Professor.

Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick, der bis 2002 den Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Fulda innehatte und selbst an der Überarbeitung beteiligt war, betonte den großen Reformbedarf. "Ich warte auf eine Revision des Strafrechts, seit der Codex 1983 in Kraft getreten ist. Das Strafrecht war immer unzulänglich, das haben alle gewusst, die es lehrten, und alle erfahren, die damit umgehen mussten, Bischöfe, Generalvikare und die Verantwortlichen in den Ordinariaten und vor allem die kirchlichen Gerichte." Er sah im Interview zwar einige Verbesserungen, aber im Ergebnis keinen großen Wurf.

Kritik aus Verbänden

Dass die Straftat eines Versuchs der Weihe einer Frau nun von Nebengesetzen in den CIC überführt wurde, bezeichnete die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) als "Schlag ins Gesicht für uns Frauen". Das Verbot der Frauenweihe solle "zementiert" werden. Das führe vor Augen, dass der Vatikan die Tür für einen Zugang von Frauen zu allen Diensten und Ämtern unbedingt geschlossen halten wolle, sagte die stellvertretende kfd-Bundesvorsitzende Agnes Wuckelt.

Bei der Reform wurde lediglich das Strafrecht, nicht das Strafprozessrecht angegangen. Daher gibt es in der Kirche weiterhin kein Öffentlichkeitsprinzip, wie es in Rechtsstaaten für die Justiz üblich ist. Das kritisierte die Gesellschaft Katholischer Publizisten (GKP). Zwar sei zu begrüßen, dass rechtsstaatliche Elemente im Kirchenrecht gestärkt worden seien. "Zu einer guten Rechtskultur gehört ein transparentes und nachvollziehbares Verfahren", begründete der GKP-Vorsitzende Joachim Frank seine Forderung nach öffentlichen Verhandlungen, Veröffentlichung von Entscheidungen und Auskunftsrechten für die Medien.

Die 10. Auflage der deutschen Textausgabe des Codex Iuris Canonici ist gelb
Bild: ©Verlag Butzon und Berker (Montage fxn/katholisch.de)

Die neue Auflage der deutschen Textausgabe des Codex Iuris Canonici ist bereits erschienen. Seit der letzten Auflage 2018 sind neben den Strafrechtsreformen noch weitere Änderungen in Kraft getreten, etwa zum Ordensrecht.

Weitere gesetzgeberische Tätigkeiten

Bereits im Februar hatte der Vatikanstaat sein Straf- und Prozessrecht modernisiert, das in weiten Teilen auf dem italienischen Recht des 19. Jahrhunderts basiert.

Am Tag vor Inkrafttreten des neuen Strafrechts veröffentlichte der Vatikan zudem neue Normen über Straftaten, für die die Glaubenskongregation zuständig ist. Nach diesen Regeln führt die Kongregation die Prozesse, für die sie zuständig ist, also Straftaten gegen Sakramente und Sexualdelikte. Die Reform brachte die zuletzt 2010 geänderten Normen in Einklang mit dem neuen Strafrecht, regelte die beiden Verfahrenswege – das gerichtliche und das Verwaltungsverfahren – klarer und neu, und führte die Regelung ein, dass Beschuldigte in Strafdelikten nicht mehr strafmildernd Unkenntnis über die Minderjährigkeit von Opfern vorbringen können.

Eine Reform des Strafprozessrechts sei derzeit noch nicht geplant, sagte der Untersekretär des Rates für die Gesetzestexte. "Wir müssen erst abwarten, welche Erfahrungen mit dem neuen Strafrecht gemacht werden. Man sollte lieber ein, zwei Jahre warten und kann dann an diese Fragen herangehen", so Graulich.

In Deutschland ist die Einrichtung einer überdiözesanen Strafgerichtsbarkeit geplant. Die dazu nötige Gerichtsordnung, die die Bischofskonferenz 2020 beschlossen hat, liegt derzeit in Rom zur Überprüfung – eine Einrichtung ist nur aufgrund eines besonderen Mandats des Heiligen Stuhls möglich. Bei der zweiten Synodalversammlung des Synodalen Wegs im Oktober berichtete Erzbischof Schick, dass die Strafgerichtsordnung sowie weitere Ordnungen zur Verwaltungsgerichtsbarkeit und einer Disziplinarordnung für Kleriker in Rom kritisch geprüft werden. "Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Dikasterien in Rom mit manchen unserer Vorstellungen 'fremdeln', denn sie sind für die Gesamtkirche zuständig und unsere Entwürfe sind in dieser Hinsicht durchaus herausfordernd. Wir warten jetzt auf eine Antwort und denken, dass sich in Gesprächen einiges erläutern lässt."

Eine Sache steht immerhin schon fest: Jede neue deutsche Textausgabe des Codex erhält eine andere Farbe für den Umschlag – auf grün folgt nun ein gelblicher Farbton, teilte der Verlag Butzon und Bercker auf Anfrage von katholisch.de mit: "Ocker oder Senfgelb trifft es, denke ich, ganz gut", so die Sprecherin des Verlags.

Von Felix Neumann