Die Kirche und die Menschenrechte – eine holprige Annäherung
Papst Leo XIII. war kein großer Freund von staatlich verbrieften Menschenrechten. In seiner Enzyklika "Immortale Dei" wandte er sich 1885 gegen die "neueren, zügellosen Freiheitslehren, welche man unter den heftigen Stürmen im vorigen Jahrhundert ersonnen und proklamiert hat, als Grundlehren und Hauptsätze des neuen Rechtes, das, vorher unbekannt, nicht bloß vom christlichen, sondern auch vom Naturrecht in mehr als einer Beziehung abweicht". Vor allem Meinungs- und Religionsfreiheit waren der Kirche lange ein Dorn im Auge, "keine Freiheit für den Irrtum" die Parole.
Menschenrechte wurden in dieser Tradition nicht abgeleitet aus der Gottesebenbildlichkeit oder den Predigten und Werken des Dominikaners Bartolomé de Las Casas, der sich im 16. Jahrhundert für die Anerkennung der Ureinwohner in der Neuen Welt als Menschen eingesetzt hatte. Menschenrechte standen für die Kirche im 19. Jahrhundert als Teil des verheerenden Erbes der französischen Revolution mit ihrem Terreur und kirchenfeindlichen Exzessen. Schon kurz nach der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" durch die Französische Nationalversammlung im Revolutionsjahr 1789 hatte sich Papst Pius VI. deutlich gegen solche Bestrebungen verwehrt: "Kann man etwas Unsinnigeres ausdenken als eine derartige Gleichheit und Freiheit für alle zu dekretieren?", fragte er im Breve “Quod Aliquantum” 1791.
Johannes XXIII. versöhnt die Kirche mit den Menschenrechten
Das Verhältnis der Kirche zu den Menschenrechten im 19. Jahrhundert war von einer großen Ungleichzeitigkeit geprägt. Bürgerliche Freiheits- und Gleichheitsideale, Religions- und Gewissensfreiheit wurden deutlich abgelehnt. Andere Menschenrechte wie das auf Eigentum dagegen tauchen durchaus auch in der Soziallehre der Päpste auf. In der ersten Sozialenzyklika überhaupt, “Rerum Novarum” von 1891, sah Papst Leo XIII. den "Geist der Neuerungen" zwar auch kritisch, proklamierte aber auch das Recht auf Eigentum und den Schutz von Ehe und Familie.
Die Haltung der Kirche zu Menschenrechten taute so richtig erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Den wohl wichtigsten Grundstein dafür legte Papst Johannes XXIII. während des Zweiten Vatikanischen Konzils in seiner Enzyklika "Pacem in terris" (1963), in der er sich positiv auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 bezog. "Wir verkennen nicht, daß gegenüber einigen Kapiteln dieser Erklärung mit Recht von manchen Einwände geäußert worden sind", räumte zwar auch er ein. "Nichtsdestoweniger ist diese Erklärung gleichsam als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen Ordnung aller Völker auf der Welt zu betrachten. Denn durch sie wird die Würde der Person für alle Menschen feierlich anerkannt, und es werden jedem Menschen die Rechte zugesprochen, die Wahrheit frei zu suchen, den Normen der Sittlichkeit zu folgen, die Pflichten der Gerechtigkeit auszuüben, ein menschenwürdiges Dasein zu führen."
Das Zweite Vatikanische Konzil entdeckt die Religionsfreiheit
Zwei Jahre später, mittlerweile amtierte Papst Paul VI., räumte das Konzil selbst zwei große Konfliktpunkte ab: Die Erklärungen "Nostra Aetate" bestimmte die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen neu, und mit "Dignitatis Humanae" wurde Lehre der Kirche, was im 19. Jahrhundert noch undenkbar und unter päpstlichem Anathema stand: "Das Recht der Person und der Gemeinschaft auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit in religiösen Belangen", so der Untertitel der Erklärung, steht nun auch aus Sicht der Kirche den Menschen zu – und zwar nicht nur aus praktischen politischen Überlegungen, sondern theologisch verantwortet und verankert: Religionsfreiheit sei "in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird". Der Satz, dass es jedem Menschen freistehe, eine Religion anzunehmen und zu bekennen, die er für wahr hält, stand 1864 noch unter dem Bannstrahl des "Syllabus Errorum" von Papst Pius IX., der Sammlung an zu verwerfenden Irrtümern.
„Der Schutz und die Förderung der unverletzlichen Menschenrechte gehört wesenhaft zu den Pflichten einer jeden staatlichen Gewalt“
Der Heilige Stuhl, in dessen Namen die Kirche internationale Verträge schließt, trat in der Folge auch einigen UN-Abkommen zu Menschenrechten bei: etwa der Kinderrechtskonvetion, der Anti-Folter-Konvention und der Flüchtlingskonvention. Andere Abkommen, etwa die Frauenrechtskonvention, bleiben ohne Beteiligung der Kirche. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist lediglich eine Resolution der UN-Vollversammlung, kein bindendes Abkommen – ein nachträglicher Beitritt war hier also nicht möglich. Den beiden internationalen Pakten über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie über bürgerliche und politische Rechte, die einige Artikel der Allgemeinen Erklärung in geltendes Völkerrecht überführen, ist der Heilige Stuhl nicht beigetreten.
Ohne kirchliche Beteiligung kommt auch die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarats aus. Weder der Heilige Stuhl noch der Staat der Vatikanstadt sind Mitglied des Europarats, dem heute 47 europäische Staaten angehören. Eine Unterzeichnung und Annahme der Europäischen Menschenrechtskonvention und damit die Unterwerfung unter den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist faktisch Aufnahmebedingung für die Mitgliedschaft im Europarat.
Frauenrechtsverbände fordern Europaratsbeitritt des Heiligen Stuhls
Das ist auch der Sprengstoff, der in einer Forderung steckt, die zwölf internationale katholische Frauenrechtsorganisationen an diesem Freitag anlässlich des Welttags der Menschenrechte erhoben haben: "Wie wir alle wissen, ist die europäische Familie im Europarat noch nicht vollständig", heißt es in der Erklärung der Verbände, zu denen aus Deutschland die "Ordensfrauen für Menschenwürde", "Maria 2.0" und die Bewegung "Wir sind Kirche" gehören. "Ein Beitritt des Heiligen Stuhls zum Europarat wäre ein weiterer Schritt dazu, dass der Europarat die ganze europäische Familie vereint", argumentieren die Frauen. Dabei geht es nicht um institutionelle Repräsentation – sondern um Menschenrechte: "Als katholische Frauen fordern wir die volle Anerkennung und Umsetzung der Menschenrechte in unseren eigenen religiösen Institutionen wie auch in der Gesellschaft insgesamt. Unser katholischer Glaube kann nicht losgelöst von unserem Engagement für die Menschenrechte betrachtet werden!"
Ein Beitritt zum Europarat ohne Ratifizierung der Menschenrechtskonvention und damit der Akzeptanz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wäre nicht denkbar – und das macht die Erfüllung der Forderung seitens der Kirche äußerst unwahrscheinlich: Eine Unterwerfung auch nur des Kirchenstaats oder des Heiligen Stuhls, also auch des Papstes selbst, unter eine weltliche Gerichtsmacht ist kaum denkbar, trotz des Wohlwollens, dass gerade auch der amtierende Papst der Organisation und ihrem Einsatz für die Menschenrechte entgegenbringt. In einer Ansprache an den Europarat in Straßburg würdigte Papst Franziskus 2014 den "großherzigen Einsatz und den Beitrag, den Sie zum Frieden leisten durch die Förderung der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechtsstaates". Den EGMR bezeichnete er als "'Gewissen' Europas bei der Achtung der Menschenrechte".
Bei aller Wertschätzung betont aber auch Papst Franziskus, dass Europarat und Kirche sich gegenüberstehen. Mit dem Europarat gibt es für den Heiligen Stuhl Zusammenarbeit (das sagt der Papst), aber keinen Beitritt (das impliziert der Papst). "Es geht darum, gemeinsam eine umfassende Überlegung anzustellen, damit eine Art 'neuer Agora' entsteht, in der jede zivile und religiöse Instanz – obschon in der Trennung der Bereiche und in der Verschiedenheit der Positionen – sich frei den anderen gegenüberstellen kann, ausschließlich bewegt von der Sehnsucht nach Wahrheit und dem Wunsch, das Gemeinwohl aufzubauen", so Papst Franziskus weiter.
Neue Menschenrechte beunruhigen die Kirche
Menschenrechte und die Verträge und Institutionen, die sie schützen und fordern auf der einen Seite sowie die Kirche auf der anderen Seite sind heute grundsätzlich versöhnt. Die alte Lehre der Kirche, dass Freiheitsrechte zu verwerfen sind und es nichts "Unsinnigeres" als sie gibt, ist verworfen. Aber es gibt auch neue Konflikte: Bestrebungen, Abtreibungen in den Status eines Menschenrechts zu erheben etwa, und das Recht, über den eigenen Tod zu bestimmen. Rechte für gleichgeschlechtlich Liebende und Trans-Personen, die über Schutz vor Gewalt hinausgehen, eine Anerkennung von Geschlechtsidentitäten, die über das zweigeschlechtliche, komplementäre Menschenbild der Kirche hinausgehen – das sind Weiterentwicklungen der Menschenrechte, die für die Kirche heute so fremd sind wie die Religions- und Gewissensfreiheit im 19. Jahrhundert. In den Menschenrechtserklärungen und -deklarationen tauchen sie zwar noch nicht auf. Dass solche Rechte aber durch Gerichte wie den EGMR aus den allgemeinen Rechten abgeleitet werden, ist eine realistische Perspektive – und keine, die den Heiligen Stuhl zu einem Europarats-Beitritt motivieren könnte.
Papst Franziskus selbst äußerte sich 2018 vor den beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomaten mit solchen Befürchtungen. Seine Ansprache widmete er anlässlich deren 60jährigen Jubiläums der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Aus christlicher Sicht bestehe zwar eine bedeutende Beziehung zwischen der Botschaft des Evangeliums und der Anerkennung der Menschenrechte. Man müsse aber auch feststellen, "dass im Laufe der Zeit, vor allem im Anschluss an die sozialen Unruhen der 68er-Jahre die Interpretation einiger Rechte fortschreitend derart abgeändert wurde, dass diese eine Vielzahl 'neuer Rechte' einschließt, die oft im Widerspruch zueinander stehen", so der Papst kritisch. Im Namen der Menschenrechte könne es zu einer "ideologischen Kolonisierung" kommen. Eine Fügung, die Franziskus in seinen Äußerungen zur Deutung vieler von ihm konstatierter Missstände heranzieht – auch der von ihm so genannten "Gender-Ideologie".