Grünen-Politikerin Otte: Gottesbezug bei Amtseid ist unwichtig
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Karoline "Karo" Otte (25) ist nach der Bundestagswahl im September als Mitglied der Grünen Jugend über die Landesliste Niedersachsen ins Parlament eingezogen. Doch Otte fällt aus dem Rahmen: Die junge Mutter ist als Erwachsene bewusst in die evangelische Kirche eingetreten. Im Interview spricht sie über den Einstieg in die Arbeit als gewählte Volksvertreterin, warum sie AfD-Abgeordnete bewusst nicht grüßt und weshalb ihr auch als überzeugte Christin der Gottesbezug im Amtseid der neuen Regierungsmitglieder nicht gefällt.
Frage: Sie sind im aktuellen Bundestag über die niedersächsische Landesliste der Grünen eingezogen, als eine der jüngsten Abgeordneten im Parlament. Wie muss man sich den ersten Arbeitstag im Bundestag vorstellen?
Otte: Die erste Woche war wie die erste Woche in der Uni oder der erste Schultag. Vom Bundestag gab es ein Willkommenskomitee. In der Fraktion gab es ein Willkommensteam – gerade auch, weil jetzt so viele neue Abgeordnete für die Grünen dazugekommen sind. Wir haben eine Mappe bekommen, eine Art "How to MdB" quasi. Was sind die wichtigsten Dinge, die ich als allererstes tun muss und die wichtigsten Telefonnummern? Und dann gab es ganz viele Einführungsveranstaltungen. In den ersten zwei Wochen ging es ganz viel darum: Was bekommen wir eigentlich für Geld? Was darf ich damit machen? Wie komme ich an dieses Geld ran? Wie funktioniert das mit Büros? Und dann, ganz langsam, ging es darum, wie eigentlich das parlamentarische Arbeiten funktioniert. Am Anfang war es wirklich ganz kleinschrittig: Wie geht dieser Laptop an und wie komme ich an meine Mails? Im zweiten Schritt dann: Wie verlaufe ich mich nicht? Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt im Bundestag. Dann kam der Punkt, wie das eigentlich hier mit dem Arbeiten funktioniert. Was ist mit parlamentarischen Anfragen und Anträgen? Und wie sieht eigentlich der Alltag aus, wenn wir dann hier arbeiten? Was ist mit Presse und Social Media?
Frage: Das klingt im Prinzip nicht sehr anders als jeder andere Job, bei dem man anfängt.
Otte: Ich glaube, es ist schneller eine größere Verantwortung an vielen Stellen. Man muss schneller bereit sein, auf einmal – von heute auf morgen – Chefin zu sein. Ich war noch nie Chefin. Ich habe vorher in einer Bauverwaltung als Sachbearbeiterin gearbeitet. Und so von jetzt auf gleich habe ich ein Team und muss Entscheidungen treffen für das ganze Team.
Frage: Auf der anderen Seite steckt darin ja sicherlich auch ein enormer Symbolgehalt. Wie war es das erste Mal auf dem blauen Stuhl im Plenarsaal zu sitzen?
Otte: Das war tatsächlich auf einer Fraktionssitzung. Das ist normalerweise nicht so. Normalerweise kommt man da wirklich nur für Plenarsitzungen in den Raum, aber wegen Corona müssen wir ja alle weit auseinander sitzen. Deshalb haben gerade am Anfang Fraktionssitzungen auch im Plenarsaal stattgefunden. Und das erste Mal da reinzukommen, da hatte ich echt irgendwie Tränen in den Augen. Es kam dann noch dazu, dass sich gleichzeitig die Fraktion tatsächlich das allererste Mal getroffen hat. Wir sind vorher feierlich und offiziell der Fraktion beigetreten. Und dann saßen wir alle auf den Stühlen und es war wirklich verrückt.
Die erste Plenarsitzung war auch noch mal ganz besonders. Zuerst ist dieser Gong ertönt. Der Gong erklingt immer am Anfang der Plenarsitzung, wenn die Präsidentin – oder da noch der Präsident des Bundestages – hereinkommt. Dann stehen alle auf. Das ist ein sehr feierlicher Moment. Das ist er, finde ich auch immer. Das war natürlich das erste Mal auch ein ganz besonderer Moment. Der noch größere Moment für mich war aber, als wir das erste Mal abgestimmt haben – und als ich wirklich zum ersten Mal meine Hand gehoben habe als Bundestagsabgeordnete. Es ging zwar nur um die Geschäftsordnung, aber es war trotzdem so ein erster Moment, wo mir klar war: Ich trage jetzt hier die Verantwortung mit. Es geht jetzt wirklich darum, was hier in den nächsten vier Jahren passiert. Und ich werde dafür mit geradestehen. Es ist eine wirklich große Verantwortung.
Frage: Haben Sie sich schon überlegt, wie das sein wird, wenn Sie das erste Mal am Podium vorne stehen und dort reden? Der Moment wird ja auch kommen.
Otte: Das wird auch kommen. Ja, also ganz sicher habe ich schon darüber nachgedacht, aber ich weiß ja nicht, wann es so weit ist. Ich glaube, die Woche vorher werde ich sehr aufgeregt sein und schlaflose Nächte haben.
Frage: Nun sind Sie mit 25 Jahren eine der jüngsten Volksvertreterinnen im Bundestag. Spielt das Alter denn eine Rolle? Gibt es Leute, die versuchen Einfluss auf Sie auszuüben, oder Sie als junge Frau nicht ernst nehmen?
Otte: Das Verrückte ist, dass ich das Gefühl habe, seit ich MdB bin nicht mehr. Also innerhalb der Fraktion sowieso nicht. Natürlich holt man sich ab und zu mal – beziehungsweise sogar sehr regelmäßig – Erfahrungsberichte: Wie macht man das? Wie läuft das? Aber dass Leute von sich aus kommen und sagen: Sorry Karo, aber da liegst du vollkommen falsch, lass mich dir mal erzählen, wie das Leben läuft ... Das passiert eigentlich wirklich gar nicht.
Wir werden jetzt erleben, wie das mit den anderen Fraktionen ist. Ich glaube, das wird noch mal ganz spannend, weil wir als Grüne natürlich auch immer in einer anderen Bubble leben. Und jetzt fängt die Ausschussarbeit an, jetzt haben wir mit anderen Menschen Kontakt. Ich bin jetzt auch noch Obfrau im Tourismusausschuss, das heißt, ich bin auch noch in so einer ganz spezifischen Rolle, wo ich mit anderen Fraktionen mehr Kontakt habe, um Tagesordnungen auszuhandeln und über Geschäftsordnungen zu reden. Das wird wieder spannend, weil ich es auch aus der kommunalpolitischen Arbeit so kenne, dass ich mir als junge Frau den Respekt für mein Amt und für meine Tätigkeit immer erst erarbeiten muss, dass ich null Vorschusslorbeeren bekomme und null Respekt von vornherein. Den muss ich mir komplett von null erarbeiten. Das kenne ich auch aus dem Wahlkampf. Im Wahlkampf damals als junge Kandidatin wurde ich regelmäßig gar nicht ernst genommen. Da wurde ich wirklich von Grund auf infrage gestellt, ob ich es überhaupt wert wäre, jetzt diese Kandidatur zu anzutreten.
Frage: Sie haben gerade die anderen Fraktionen angesprochen: Wie gehen Sie als Abgeordnete eigentlich mit Kolleginnen und Kollegen von der AfD um? Will man mit denen nichts zu tun haben, oder zeigt man denen den gleichen Respekt wie allen anderen gewählten Volksvertretern? Also: Grüßt man die im Aufzug?
Otte: Die AfD, muss ich ganz ehrlich sagen, begrüße ich nicht. Wenn ich AfD-Abgeordneten im Aufzug begegne und sie nicht erkenne, dann grüße ich aus Höflichkeit. Wenn ich sie erkenne, dann tue ich das nicht. Sind aus meiner Sicht zwar demokratisch gewählte Volksvertreter, aber vertreten nicht unsere geteilten demokratischen Werte. Sie denken nicht demokratisch und haben oft auch keinen demokratischen Anspruch.
Ich habe am Anfang da etwas mit gehadert und gedacht: Mal gucken, wie ich damit umgehe. Aber nachdem ich sie jetzt im Plenum mehrfach erlebt habe, bin ich darin bestärkt, es weiter so zu handhaben, weil es wirklich keinen Grund gibt, mit ihnen zu verhandeln. Es ist unglaublich, wie demokratieverachtend und menschenverachtend dort aufgetreten wird und mit welchem Hass die ganze Zeit agiert wird. Das finde ich wirklich krass. Das hatte ich auch vorher nicht unbedingt so erwartet. Ich habe mir natürlich auch mal eine Bundestagsplenardebatte angeguckt, aber das so live zu erleben, fand ich noch mal ganz anders verstörend.
Frage: Ist das eine Ansicht, die Sie auch von den anderen Abgeordneten gegenüber der AfD erleben, oder haben die sich inzwischen so daran gewöhnt?
Otte: Ich glaube, die Entrüstung und die Schockiertheit ist immer noch da. Ich glaube, die verliert man dem gegenüber hoffentlich nicht, weil es wirklich krass ist: Wie aufgetreten wird, was die Sprache ist – und das ist ja auch noch mal schlimmer geworden. Es sind ja noch mal extremere Kandidatinnen und Kandidaten in den Bundestag eingezogen. Das ist wirklich schockierend.
„Es gibt mir große Hoffnung, dass wir in der Lage waren, diese Machtübergabe so zu gestalten, wie es gelaufen ist: wahnsinnig unaufgeregt. Gestern war Merkel Kanzlerin, heute ist es Scholz.“
Frage: Thema Glaube und Politik: Sie sind evangelisch-lutherisch. Was spielt das für Sie für eine Rolle?
Otte: Das spielt für mich eine gewaltige Rolle. Ich habe mich sehr aktiv dafür entschieden. Ich habe mich auch einmal sehr aktiv dagegen entschieden. Ich wurde von meinen Eltern "genötigt", ein Jahr lang Konfirmationsunterricht zu belegen. Das war die Regel: Ein Jahr lang setzt du dich damit auseinander und dann kannst du entscheiden. Daraus sind zwei Jahre geworden, weil es mir eigentlich ganz gut gefiel, mich damit auseinanderzusetzen. Am Ende habe ich aber entschieden: Das ist nichts für mich. Ich möchte mich nicht konfirmieren lassen. Das passte damals nicht zu meinem Idealismus. Da dachte ich: Meinen Ansprüchen wird die Kirche nicht gerecht. Was ich erwarte von Kirche, das passiert nicht – und dann möchte ich da nicht Mitglied werden.
Aber ich habe mich dann vor zwei Jahren doch dafür entschieden einzutreten, nachdem ich für mich selbst erkannt habe: Die Ideale, die ich lebe, sind christliche Ideale und sie sind bei weitem nicht selbstverständlich, wovon ich sehr lange ausgegangen bin. Ich habe einen sehr starken Bezug zum Thema Nächstenliebe. Das ist mir sehr wichtig. Es ist mir sehr wichtig, Menschen erst mal mit Liebe zu begegnen und viel Verständnis aufzubringen und zuzuhören. Das sind mir entscheidende Grundwerte. Gerade dieser Aspekt von Nächstenliebe ist für mich auch für meine Politik entscheidend. Und auch wie die evangelische Kirche sich politisch positioniert hat, im Bezug auf Geflüchtete und in Bezug auf Homosexualität – an ganz vielen Stellen habe ich gesagt: Das ist mir wichtig, dass diese Werte auch mit einer Mitgliedschaft unterstützt werden. Daraufhin bin ich wieder Kirchenmitglied geworden. Es ist für mich wirklich ein entscheidender Bestandteil meiner Persönlichkeit.
Frage: ... was ja gegen den Trend des neuen Parlaments spricht. Die Zahl der Konfessionslosen ist gestiegen. Wir haben jetzt mit Olaf Scholz erstmalig einen konfessionslosen Kanzler. Der Zweite, der seinen Amtseid ohne Gottesbezug gesprochen hat. Welche Rolle spielt der Glaube im politischen Prozess für Sie?
Otte: Ich glaube, es ist erst mal unwichtig, ob man seinen Amtseid mit Gottesbezug spricht oder nicht. Ich muss ehrlich sagen, ich habe sehr geschmunzelt dabei, weil ich diesen Gottesbezug in diesem Amtseid fast ein bisschen einschränkend finde, wenn man sagt "so wahr mir Gott helfe". Und wenn er mir eben nicht hilft, dann "sorry"?! Ich gebe mein Bestes, aber wenn ich es nicht gebe, war es dann im Zweifel gar nicht meine Schuld, sondern Gottes? Ich hatte das Gefühl, das ist auch vielleicht in der Formulierung ein bisschen Verantwortung von sich schiebend.
Der andere Punkt ist: Ich glaube, man kann auch wertegeleitet Politik machen, ohne dass man sich dabei auf eine christliche Kirche beruft. Man kann auch Empathie leben und auch ein christliches Weltbild vermitteln, ohne dass man dabei sagt: Das ist übrigens mein christliches Weltbild, was ich hier lebe. Das ist, glaube ich, einfach möglich. Die Kirche kann da nicht alleine für stehen. Das muss auch außerhalb der Kirche gehen. Ich denke, das ist das Wichtige. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir tatsächlich empathisch Politik machen. An vielen Stellen gehe ich mit Frau Merkel nicht d'accord, aber ich fand es bewegend, als sie in einem Interview erzählt hat, dass sie Politik für Menschen gemacht hat, weil sie Menschen mag. Das ist, finde ich, eine großartige Haltung. Da ist erst mal egal, wer dieser Mensch ist auf der anderen Seite. Der ist mir einfach wichtig als Mensch. Das ist eine sehr gute Haltung. Und ich glaube, die kann man auch außerhalb von christlichem Glauben entwickeln und haben.
Frage: Das Thema Hoffnung ist ja ein ganz wichtiges im christlichen Kontext. Was bringt Ihnen Hoffnung in Ihrer neuen Aufgabe als Mitglied des Bundestages?
Otte: Es gibt mir große Hoffnung, dass wir in der Lage waren, diese Machtübergabe so zu gestalten, wie es gelaufen ist: wahnsinnig unaufgeregt. Gestern war Merkel Kanzlerin, heute ist es Scholz. Das ist jetzt erst mal so. Es gibt mir Hoffnung, dass es genug Menschen im Land gibt, denen es wichtig ist, dass unsere Demokratie bestehen bleibt und dass sie ihre eigene Meinung im Zweifel erst einmal zurückstellen und sagen: Jetzt beginnt hier eine neue Regierung. Wir können dagegen demonstrieren, wir können das doof finden, was die machen, aber wir sehen den Mehrwert von Demokratie und lassen das jetzt zu und schauen, wie wir in den nächsten vier Jahren auf demokratischen Wegen darauf Einfluss nehmen können. Aber jetzt wünschen wir dieser Regierung erst einmal alles Gute, weil sie im Zweifel auch für uns handelt. Das ist, finde ich, ein wahnsinnig starkes Zeichen dafür, dass wir in einer Demokratie leben, die sehr gut funktioniert. Das macht Hoffnung.