Die Grünen: "Bereit" für eine neue Ära – auch im Umgang mit den Kirchen
Das Programm der Grünen zur anstehenden Bundestagswahl lässt keinen Zweifel daran, dass die Partei endlich wieder einer Bundesregierung angehören will. Nach der rot-grünen Koalition von 1998 bis 2005 unter dem sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder befinden sich die Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag bereits seit 16 Jahren in der Opposition. Dass sich die Grünen "bereit" dafür halten, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu beerben, spiegelt sich nicht nur in der Kür der Parteivorsitzenden Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin wider. Es ist sogar das Motto ihrer Wahlkampagne: "Bereit, weil Ihr es seid." Nach dem Ende der Ära Merkel soll eine neue Zeit in Deutschland beginnen, die von grüner Politik geprägt ist.
Das Wahlprogramm der Grünen, das mit 272 Seiten das umfangreichste der großen Parteien ist, enthält zahlreiche politische Ideen für die Zukunft Deutschlands. Da die Partei ihre Wurzeln unter anderem in der Umweltbewegung hat und besonders ökologisch ausgerichtet ist, verwundert es nicht, dass der Klima- und Naturschutz einen der Schwerpunkte im Programm der Grünen bildet. So wollen sie im Fall eines Wahlsiegs etwa ein "Klimaschutz-Sofortprogramm" auflegen, "das in allen Sektoren sofort wirksame Maßnahmen anstößt". Hindernisse beim Ausbau der erneuerbaren Energien sollen beseitigt und Energie überall wo möglich eingespart werden, um 70 Prozent weniger Treibhausgase im Jahr 2030 im Vergleich zum Niveau von 1990 auszustoßen. Dabei handelt es sich um eine Anhebung des deutschen Klimaziels, das aktuell noch bei 65 Prozent liegt.
Als weitere Maßnahme soll der CO2-Preis für Verkehr und Wärme, der im Klimapaket der Bundesregierung aus dem Jahr 2019 enthalten war, in den kommenden zwei Jahren von derzeit 25 Euro pro Tonne auf 60 Euro angehoben werden. Die Umweltbewegung, aber auch Wissenschaftler hatten den geplanten Höchstpreis von 35 Euro als zu gering kritisiert, während Wirtschaftsvertreter vor einer zu hohen Abgabe gewarnt hatten. Um den Klimaschutz sozial gerecht zu gestalten, sollen nach dem Willen der Grünen die Einnahmen aus dem CO2-Preis durch ein Energiegeld an die Bürger zurückgegeben werden. Dadurch sollen vor allem Menschen mit geringen Einkommen und Familien finanziell entlastet werden.
Diese Forderung zeigt, dass die Grünen neben ihrer Stammklientel, die ökologisch ausgerichtet, akademisch gebildet und der Mittelschicht zuzurechnen ist, auch neue Wählergruppen ansprechen wollen. Das Wahlprogramm ist nach Ansicht von Baerbock ein "Angebot für die Breite der Gesellschaft". Im angestrebten Übergang der Grünen zur Volkspartei machen sie auch finanziell schwächeren Bürgern Versprechen, etwa im Bereich der Steuerpolitik. So wollen die Grünen durch einen höheren Steuerfreibetrag vor allem kleine und mittlere Einkommen entlasten, den Spitzensteuersatz anheben sowie eine Steuer auf Vermögen über mehr als zwei Millionen Euro pro Person einführen. Weiter möchte die Partei die Hartz-IV-Regelsätze sofort um mindestens 50 Euro anheben, das ganze System aber auf lange Sicht durch eine Garantiesicherung ersetzen, die frei von Sanktionierungsmaßnahmen für die Empfänger ist.
Gleichzeitig versuchen die Grünen die Skepsis gegenüber den geplanten weitreichenden Klima-Maßnahmen in der Wirtschaft abzubauen. So versprechen sie etwa, mit dem Ausbau der Windenergie den "Wirtschaftsstandort Deutschland" zu sichern oder "klimagerechtes Wirtschaften" zu belohnen. Beim klimaneutralen Umbau der Wirtschaft soll es staatliche Hilfen geben. Konkret werden diese Unterstützungspläne jedoch kaum benannt. Dabei sind eine erfolgreiche Wirtschaft und Klimaschutz in den Augen der Grünen keine Gegensätze: "So machen wir unsere Wirtschaft zur Spitzenreiterin bei den modernsten Technologien und schützen unsere natürlichen Lebensgrundlagen."
Projekte gegen Antisemitismus
Neben vielen anderen Themen aus den Bereichen Verkehr, Soziales, Bildung, Landwirtschaft oder Gesundheit, die vom zweiten grünen Bundesvorsitzenden Robert Habeck als "Vitaminspritze für unser Land" bezeichnet wurden, kommt auch die Religionspolitik vor – ohne jedoch einen inhaltlichen Schwerpunkt zu bilden. Im Kapitel ihres Wahlprogramms zu Positionen und Forderungen im Kampf gegen Diskriminierung stellen sich die Grünen entschieden gegen jede Form von Ausgrenzung aufgrund der Religion. So versprechen sie etwa eine Förderung des jüdischen Lebens in Deutschland. Dazu sollen Bildungsangebote zum Judentum sowie Sensibilisierungs- und Präventionsprojekte gegen Antisemitismus durchgeführt werden. Konkret werden "antisemitische Narrative, israelbezogener Antisemitismus und verschwörungsideologische Erzählungen" genannt, gegen die vorgegangen werden soll, um deutschen Juden Sicherheit zu bieten.
Auch in Deutschland lebenden Muslimen und entsprechenden religiösen Einrichtungen wollen die Grünen größtmögliche Sicherheit garantieren. Aufgrund fortdauernder Bedrohungen – genannt werden strukturelle Diskriminierung und gewalttätige Übergriffe – seien hier ebenso Präventionsprojekte und umfassende Schutzkonzepte angebracht. Die Grünen wollen sich für Staatsverträge mit islamischen Religionsgesellschaften einsetzen, sofern sie von politischen Einflüssen unabhängig sind. Als Grund wird die angestrebte Gleichstellung angeführt, da der Staat keine Religion bevorzugen dürfe. Zwar seien die Strukturen innerhalb des Islam nicht derart hierarchisch strukturiert wie etwa in den Kirchen, doch dies dürfe den Muslimen nicht zum Nachteil gereichen und Staatsverträge verhindern. Wichtig ist dieses Thema etwa im Zusammenhang mit der Frage nach islamischem Religionsunterricht. Außerdem wollen die Grünen die Imam-Ausbildung in Deutschland stärken und "progressive, liberale muslimische Vertretungen" in die Religionspolitik einbinden, "die für Werte wie Gleichberechtigung der Geschlechter, LSBTIQ*-Rechte und Feminismus einstehen".
Gegenüber den christlichen Kirchen kühlt der Ton im grünen Wahlprogramm verglichen mit den anderen Religionen jedoch etwas ab. Zwar wird ihnen zugestanden, "unserer Gesellschaft vielfältige Impulse" zu geben und einen wichtigen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu leisten, etwa im sozialen Bereich oder bei der Seenotrettung von Geflüchteten, die lobend erwähnt wird. Auch bekennt sich die Partei ausdrücklich zum Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, betont jedoch im gleichen Satz das Neutralitätsprinzip des säkularen Staates. Die gewachsene Beziehung zwischen dem Staat und den Kirchen wollen die Grünen erhalten, jedoch an die heutigen gesellschaftlichen Realitäten anpassen.
Was das bedeutet, zeigt sich etwa am kirchlichen Arbeitsrecht. Es soll reformiert werden und eine stärkere gewerkschaftliche Mitbestimmung erhalten. Die Grünen wollen außerdem die "Ausnahmeklauseln für die Kirchen im Betriebsverfassungsgesetz und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz" aufheben. Zudem betonen sie die Notwendigkeit der Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, wozu sie im Frühjahr gemeinsam mit den Linken und der FDP einen Antrag im Bundestag eingebracht hatten, der von der großen Koalition letztlich abgelehnt wurde. Außerdem soll der sogenannte Blasphemie-Paragraf gestrichen werden, der die Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen und Gemeinschaften unter Strafe stellt. Bei aller Kritik an den aus Sicht der Grünen problematischen gewachsenen Sonderrechten der Kirchen, lobt das Wahlprogramm "die vielen Gläubigen, die sich für eine notwendige Modernisierung der christlichen Kirchen einsetzen und auf eine lückenlose Aufklärung der Fälle sexualisierter Gewalt" drängen.
Konfliktlinien zwischen Kirche und Grünen
Das Wahlprogramm der Grünen zeigt, dass bei einer Regierung unter Beteiligung der Partei wohl nicht nur eine neue Ära in der Bundespolitik, sondern auch im Verhältnis des Staates zu den Kirchen anbrechen würde. Viele Rechte der Kirche, die gerade aus dem linken politischen Lager als Privilegien bezeichnet werden, würden schrumpfen und sich verändern. Konfliktlinien zwischen Grünen und katholischer Kirche tun sich auch beim Thema Abtreibungen auf, da die Grünen für eine Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen eintreten. Sie fordern etwa eine Streichung der entsprechenden Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch, einen einfacheren Zugang zu Informationen über Abtreibungen vornehmende Ärzte sowie eine "Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von selbstbestimmten Abbrüchen".
Gleichzeitig gibt es viele Überschneidungen zwischen der kirchlichen Lehre und grünen Positionen, etwa beim konsequenten Klimaschutz, dem Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit oder Geflüchtete. Nicht umsonst stehen die Deutsche Bischofskonferenz und die grüne Partei seit Jahren im gegenseitigen Austausch, wie etwa das symbolträchtige Kontakttreffen von Kardinal Reinhard Marx mit dem Grünen-Vorsitzenden Habeck aus dem Jahr 2019 belegt. Im Fall einer grünen Regierungsbeteiligung würde wohl auch dieses Verhältnis in eine neue Ära eintreten.