Der Papst hat keine Strategie für abtrünnige Kardinäle
Fünf Jahre lang war Kardinal Gerhard Ludwig Müller quasi arbeitslos – jedenfalls an der Kurie, wo er fristgerecht und dennoch überraschend im Sommer 2017 nach einer Amtszeit als Präfekt der Glaubenskongregation abberufen wurde. Seit diesem Sommer ist Müller Richter an der Apostolischen Signatur, dem obersten Gericht der Kirche. Wenn der Papst mit diesem Schritt vorhatte, den kritischen Kardinal durch Beschäftigung und einen geregelten Tagesablauf einzuhegen, ist das gründlich gescheitert. Der Kardinal irrlichtet weiter durch die Presse – Nazi-Vergleiche, Petitionen mit Papst- und Impfgegnern, jüngst ein Interview, in dem er wieder Weltverschwörer wittert.
Als Erzbischof und Kardinal agiert hier keine Privatperson, sondern einer der höchsten Repräsentanten der katholischen Kirche – auch ohne Bistum oder Portfolio an der Kurie. Das Problem Müller ist längst auch ein Problem Franziskus geworden, dem der Papst nicht Herr werden kann oder will, verstärkt noch durch die Zahl der Bischöfe und Kardinäle, die in ähnlicher Opposition wie Müller agieren und im selben Verschwörungsfahrwasser wie er fahren: Amtierende wie Joseph Strickland, Bischof von Tyler (USA), und Athanasius Schneider, Weihbischof in Astana (Kasachstan), und abgesetzte wie der ehemalige US-Nuntius Carlo Maria Viganò.
Dass Bischöfe sich so offensichtlich und lautstark gegen den Kurs des Papstes stellen, ist im System nicht vorgesehen – und das System findet damit keinen rechten Umgang. "Das System" ist im Fall von Bischöfen immer der Papst – nur der Papst steht über den Bischöfen, die innerhalb des Bischofskollegiums hierarchisch auf derselben Ebene stehen. Der Papst hat zwar in der Kirche unmittelbare und universale Gewalt, aber wie und nach welchen Kriterien er sie in solchen Fällen klug einsetzt, ist nicht klar. Was Franziskus bereits praktiziert, ist das Absetzen von Kritikern – wenn auch ohne einen Plan für die Zeit danach. Trotz aller Versuche, mit Verweis auf die reguläre Amtszeit von fünf Jahren das Ende der Amtszeit von Kardinal Müller als Normalität darzustellen, ist es recht klar, dass es sich hier nicht um Verwaltungsformalia handelt, sondern eine politische Korrektur vorgenommen wurde. Mit gönnerhaften Äußerungen wie der, dass Franziskus kein großer Theologe sei und die Glaubenskongregation die Aufgabe habe, ein Pontifikat theologisch zu strukturieren, hatte er sich selbst ins Aus geschossen, wie auch Kardinal Robert Sarah, der immerhin sieben Jahre lang Präfekt der Gottesdienstkongregation war, und ersichtlich andere liturgische Präferenzen als der Papst hat – und auch als Präfekt äußerte. In beiden Fällen folgte auf die Emeritierung in den entsprechenden Ämtern zunächst keine neue Aufgabe.
Es fehlt eine Strategie
Was fehlt, ist eine Strategie, wie es nach der Absetzung weitergeht, erst recht, wenn die Abgesetzten noch im für Kurienbischöfe geradezu jugendlichen Alter wie Müller sind, der zum Ende seiner Amtszeit 69 Jahre alt war – und noch gut zehn Jahre bis zum Ruhestandsalter von 80 vor sich hatte. Nichtstun ist keine Option. Die Bischofsweihe ist in der Sprache der Sakramentenlehre ein untilgbares Prägemal, und auch das Kardinalat gilt trotz weniger prominenter Gegenbeispiele als unverlierbar.
Franziskus tendiert dennoch oft zum Schweigen, etwa als Viganò ihn im Kontext des Falles des mittlerweile aus dem Klerikerstand wie aus dem Kardinalskollegium entfernten Theodore McCarrick schwer belastete. Schweigen auch 2016, als die Kardinäle Walter Brandmüller, Raymond Burke, Carlo Caffarra und Joachim Meisner "Dubia", Zweifel am nachsynodalen Schreiben "Amoris Laetitia" und dem Kommunionempfang wiederverheirateter Geschiedener äußerten.
Bei den unbeantworteten Dubia kann man noch einen gewissen Erfolg der Strategie konstatieren. Nach fünf Jahren sind sie nirgends mehr Thema, die Opposition der vier Kardinäle blieb Episode. Ob es einem redlichen theologischen Diskurs gut tut, durchaus verantwortet formulierte Fragen einfach zu ignorieren, steht auf einem anderen Blatt. Viganò dagegen scheint sich durch das Schweigen eher ermutigt zu fühlen. Von einem unbekannten Aufenthaltsort aus betreibt er ein reges Schriftenapostolat: Hier eine Petition gegen die "Neue Weltordnung" (auch Müller hat unterzeichnet), da regelmäßige Rundbriefe mit neuen Anschuldigungen, intensive Vernetzung mit der Internationale der Querdenker, von Impfgegnern über Pseudowissenschaftler bis hin zu Esoterikern. Auch wenn er sich mittlerweile so sehr abseits jeglicher Satisfaktionsfähigkeit gestellt hat, dass seine rege Publikationstätigkeit kaum noch Widerhall in seriösen Medien findet: Mit seinem Engagement trägt er dazu bei, dass eine sich stetig selbst bestärkende Szene immer neues Futter bekommt und sich weiter radikalisiert.
Welche Perspektiven haben jung emeritierte Kardinäle?
Bei Viganò kamen die vermeintlichen Enthüllungen 2018 – zwei Jahre nach seiner Emeritierung im für Bischöfe üblichen Alter von 75 Jahren, aber offensichtlich noch in einem Alter, in dem er selbst nicht viel von Ruhestand hält. Bei den emeritierten Bischöfen, die ehemals im Dienst der Kurie standen, scheint sich die fehlende Einbindung in diözesane Strukturen zu zeigen. Das "Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe", das die Bischofskongregation 2004 erlassen hatte, regelt zwar die Rolle und Aufgaben von emeritierten Bischöfen – jedoch lediglich für die emeritierten Diözesanbischöfe und diözesane Weihbischöfe, nicht aber für Kurienkardinäle, für die es schon hierarchisch schwierig ist, eine Anschlussverwendung an eine vor dem kanonischen Höchstalter von 80 Jahren beendete kuriale Spitzenposition zu finden.
Der emeritierte Bischof ist demnach gehalten, dass er "sich weder direkt noch indirekt in die Leitung der Diözese einmischt und er soll jede Haltung und jede Beziehung vermeiden, die auch nur den Eindruck erwecken könnte, als ob er quasi eine Parallelautorität zu der des Diözesanbischofs errichtet, mit der entsprechenden Beeinträchtigung für das Leben und die pastorale Einheit der diözesanen Gemeinschaft". Der emeritierte Bischof soll mit seinem Nachfolger in Brüderlichkeit und gegenseitigem Respekt umgehen. Hier scheint sich die ekklesiologisch fragwürdige Konstruktion zu rächen, dass Bischöfe in kurialen Ämtern tätig sind, obwohl ein Bischof ohne Bistum eigentlich undenkbar ist. Bei diözesanen Weihbischöfen ist das Titularbistum, das ihnen zugeteilt wird, eine Fiktion, das tatsächliche Bistum aber das, in dem sie wirken. Eine solche Rückbindung an ein echtes Bistum mit einer Rückbindung im Gottesvolk und Diözesanklerus besteht für emeritierte Kurienbischöfe kaum, und auch das Bischofskollegium scheint hier nicht zu tragen. Kein Wunder, dass der informelle Viganò-Kreis gewissermaßen als Ersatz der Gemeinschaft der Ortskirche wirkt – mit allen negativen Auswirkungen, die solche Parallelgesellschaften mit sich bringen.
Das Bischofskollegium ist außerhalb der Sondersituation eines Konzils eine eher theoretische Größe und wenig erfahrbar. Für Bischöfe ohne Anbindung an ein Bistum könnte es aber lohnend sein, über seine Rolle als Gemeinschaft und Regulativ nachzudenken: Als Gemeinschaft, die dem Abdriften ihrer Mitglieder durch gegenseitige Stützung vorbeugt, und als Regulativ, das auch seine ansonsten freischwebenden Mitglieder in die Verantwortung für ihr Handeln und ihre Äußerungen nimmt. Die herausgehobene ekklesiologische Stellung von Bischöfen führt gegenwärtig eher dazu, dass Kritik, zumindest in der Öffentlichkeit, unter Bischöfen gescheut wird – auch dann, wenn das kritikwürdige Verhalten schon selbst eine verheerende Öffentlichkeitswirkung erzielt hat, bleiben öffentliche brüderliche Zurechtweisungen unter Bischöfen sehr dezent.
Kein zwangsläufiger Absturz
Zwangsläufig ist ein Absturz wie bei Müller nicht. Das zeigen die vielen emeritierten Kurialen, die ohne Groll und Aufsehen die Zeit nach ihrer Amtszeit leben. Selbst bei bekannten Papstkritikern ist eine solche Entwicklung nicht zwangsläufig – schien eine ähnliche Gefahr wie bei Müller auch bei Sarah zu drohen, scheint er seine immer noch bestehenden Differenzen zur Theologie von Franziskus und zu modernen liturgischen Entwicklungen derzeit prononciert, aber ohne ein Abdriften in den Obskurantismus viganò'scher Prägung zu vertreten. Auch der Dubia-Kardinal Brandmüller äußerte sich zuletzt mäßigend im Streit um Papst Franziskus' Motu Proprio zur Alten Messe.
Auch wenn die Extreme, die sich bei Viganò und Müller zeigen, Ausnahmen sind: Hier nicht zu handeln ist immer weniger eine Option. Schweigen, auch Schweigen als Strategie angesichts offensichtlichen Unsinns, wird als Zustimmung, zumindest als Duldung aufgefasst. Es braucht Modelle und Strategien, wie der Papst seine Hirtensorge auch gegenüber seinen Gegnern ausüben kann – und Ideen, wie eine Kultur des Ruhestands auch für Bischöfe aussehen kann, die ihren Dienst auf Zeit an der Kurie beenden und doch Bischof und Kardinal bleiben.