Gesetzgeber muss Menschen mit Behinderung besser schützen

Moraltheologe begrüßt Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Veröffentlicht am 28.12.2021 um 11:30 Uhr – Lesedauer: 

Karlsruhe/Tübingen ‐ Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, für den Fall einer pandemiebedingten Triage "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen zu treffen. Der Moraltheologe Franz-Josef Bormann begrüßt die Entscheidung.

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Der Tübinger Moraltheologe Franz-Josef Bormann hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz von Menschen mit Behinderungen bei einer pandemiebedingten Triage begrüßt. Die Entscheidung des Gerichts betone einerseits die Verantwortung des Gesetzgebers zum Schutz dieser Menschen vor Diskriminierung in Situationen, in denen aufgrund begrenzter medizinischer Ressourcen ausgewählt werden müsse, welche Patienten zuerst behandelt würden, sagte Bormann, der auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, am Dienstag auf Anfrage von katholisch.de. Andererseits gewähre das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen breiten Abwägungsspielraum bei der konkreten Ausgestaltung dieses Schutzes.

"Gleichheitsgrundsatz darf auch bei Triage nicht unterlaufen werden"

Der im Grundgesetz verankerte allgemeine Gleichheitsgrundsatz dürfe auch in Triage-Situationen nicht unterlaufen werden, betonte der Moraltheologe. Die für die Zuteilung medizinischer Ressourcen ins Feld geführten Kriterien der Behandlungsbedürftigkeit und der klinischen Erfolgsaussicht seien tatsächlich konkretisierungsbedürftig, um vor allem indirekte Diskriminierungen wirksam auszuschließen. "Sie sind aber zugleich auch konkretisierungsfähig, so dass kein Anlass dazu besteht, sie grundsätzlich in Frage zu stellen", so Bormann weiter.

Das Bundesverfassungsgericht hatte am Dienstagmorgen einen Beschluss vom 16. Dezember veröffentlicht, in dem die Bundesregierung dazu aufgefordert wird, für den Fall einer pandemiebedingten Triage "unverzüglich" geeignete Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderung zu treffen. "Der Gesetzgeber muss – auch im Lichte der Behindertenrechtskonvention – dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird", heißt es in dem Beschluss wörtlich. Mit seiner Entscheidung gab das höchste deutsche Gericht der Verfassungsbeschwerde mehrerer Menschen mit Behinderung statt. Zugleich räumte es dem Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung der zu treffenden Vorkehrungen einen "Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum" ein.

Gericht: Menschen mit Vorerkrankungen in Pandemie besonders gefährdet

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sind Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen und Vorerkrankungen in der Corona-Pandemie besonders gefährdet. "Sie unterliegen in Einrichtungen und bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko, und sie tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an COVID-19 zu sterben", so das Gericht. Wenn es auf den Intensivstationen der Krankenhäuser nicht genügend Betten und Beatmungsgeräte gebe, bestehe die Gefahr, dass die Betroffenen nicht behandelt würden. Deshalb müsse der Gesetzgeber Vorschriften erlassen, damit Menschen mit Behinderung besser geschützt würden. Dass der Gesetzgeber dies bisher nicht getan habe, sei verfassungswidrig. Die Richter verwiesen in diesem Zusammenhang unter anderem auf Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. Danach dürfen Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden.

Bormann betonte, dass Triage-Entscheidungen vor allem in pandemischen Situationen eine reale Gefahr für verdeckte Diskriminierungen darstellten und deshalb tatsächlich gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehe. Allerdings solle der Gesetzgeber nicht zu viele positive Details regeln, da in der Praxis komplexe Einzelfallentscheidungen von ärztlichen Behandlungsteams zu treffen seien. "Relativ leicht gesetzlich zu regeln sind unzulässige Entscheidungskriterien – also das, was auf jeden Fall verboten ist, weil es einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz darstellt", so der Moraltheologe. Viel schwieriger sei dagegen eine detaillierte Vorgabe darüber, wie etwa das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht konkret zu operationalisieren sei. "Hier sollte der Gesetzgeber nur die generelle Richtung angeben, ohne zu viele Einzelheiten festzuschreiben, die dann in der Praxis ohnehin unter variablen Umständen jeweils neu angepasst werden müssten", betonte Bormann. (stz)