Zum ersten Jahrestag des Sturms auf das US-Kapitol

"Amerikas Gotteskrieger" – Religiöse Rechte gefährdet Demokratie

Veröffentlicht am 05.01.2022 um 16:45 Uhr – Lesedauer: 

Washington ‐ Mit Kreuz und Flagge gerüstete Schamanen: Vor einem Jahr stürmten christliche Nationalisten aus Wut über die Wahlergebnisse das US-Kapitol. Ein Fanal dafür, wie gefährdet die Demokratie im "Land of the Free" ist.

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Die Bilder entbehrten nicht einer gewissen Komik und Absurdität – wäre der Hintergrund nicht derart dramatisch: Eine bunt zusammengewürfelte Menschenmenge, ein Mob, steht und tobt im US-Kapitol, der Herzkammer der modernen "Ur-Demokratie". Mittendrin ein offenbar als indigener Medizinmann verkleideter Demonstrant.

Der Medizinmann heißt eigentlich Jacob Chansley, ist der Welt aber inzwischen besser unter dem Namen "QAnon-Schamane" bekannt. Er gilt als Symbolfigur für die Wut der Anhänger des gerade abgewählten US-Präsidenten Donald Trump: Wut auf die angeblich gestohlene Wahl, Wut auf das als korrupt wahrgenommene Establishment, Wut – letztlich – auf das System und die Demokratie, durch die sich die Trump-Anhänger benachteiligt fühlen. Der Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar des vergangenen Jahres war der Moment, in dem sich diese Wut eindrucksvoll und auch gewalttätig Bahn brach.

Die Ermittlungen um den Kapitolsturm beschäftigen die US-Behörden weiterhin. Schamane Chansley etwa erhielt eine dreijährige Haftstrafe. Ein Untersuchungsausschuss des US-Repräsentantenhauses prüft darüber hinaus weiterhin die Vorwürfe gegen Trump. Er soll seine Unterstützer aufgewiegelt, die schlussendliche Eskalation, bei der vier Menschen starben, herbeigeredet haben.

Lobpreis auf Trump

Zwar bestreitet der Ex-Präsident die Vorwürfe, behauptet sogar zur Mäßigung aufgerufen zu haben. In einem Gebet – kurz zuvor über die Sozialen Netzwerke verbreitet – klärte Chansley damals jedoch deutlich über seine Motive und seine Haltung zu Trump auf: "Danke, dass du den Vereinigten Staaten erlaubt hast, wiedergeboren zu werden. Danke, dass du uns erlaubt hast, uns der Kommunisten, der Globalisten und der Verräter in unserer Regierung zu entledigen. Wir lieben dich und wir danken dir. Wir beten in Christi heiligem Namen."

Diesen Lobpreis auf Trump stellt Annika Brockschmidt ihrem mehr als 300 Seiten starken Buch über die religiöse Rechte in den USA, "Amerikas Gotteskrieger", vielsagend voran; gewissermaßen als Ausdruck der jüngsten Evolution des christlichen Nationalismus in Amerika.

Donald Trump hat die Augen geschlossen und betet.
Bild: ©picture alliance / AP Photo (Archivbild)

Der frühere US-Präsident Donald Trump.

Die Journalistin zeichnet die Entwicklung nach, wie Fundamentalisten und religiös verbrämte Verschwörungstheoretiker unter Trump Einfluss auf die Regierung nahmen. Brockschmidt stellt Zitate Trumps in einen historischen Kontext, der "die Chemie" zwischen dem Ex-Präsidenten und dem weißen christlichen Nationalismus in den USA erklärt.

Für die Autorin war der 6. Januar kein Zufall. Ihre These: Der christliche Nationalismus "tauchte nicht erst mit Donald Trump auf der politischen Bühne auf". Er habe tiefe Wurzeln in den USA. Wie alle rechten Bewegungen lebt auch der christliche Nationalismus dort von einer Art Opferkult. Trump bediente das tief sitzende Gefühl der Fundamentalisten, in einer Art Belagerungszustand zu leben.

Privilegien des weißen Christentums sichern

Um nach dieser "inneren Logik zu funktionieren", brauchen "Amerikas Gotteskrieger" in der Erzählung Brockschmidts immer neue Feindbilder. Schließlich gehe es "um Macht, und zwar in erster Linie um politische Macht". Dabei scheuten sie auch keinen Konflikt mit der Verfassung. Die gebetsmühlenhaft vorgetragene Forderung nach Religionsfreiheit verfolge das Ziel, die Privilegien des weißen Christentums in den USA zu sichern.

Dass diese Entwicklung zu einer ernsthaften Bedrohung für die Funktionalität der US-Demokratie werden könnte, ist ein Fazit, in dem Brockschmidt von vielen anderen Experten bestätigt wird. Weiterhin tobt der Kampf um eine Wahlrechtsreform. Die Republikaner, unter dem Eindruck der "gestohlenen Wahl", drängen auf Verschärfungen. In republikanisch regierten Bundesstaaten wurde bereits die Briefwahl eingeschränkt und die Ausweispflicht bei der Stimmabgabe verschärft. Demokraten sehen darin den Versuch, Minderheiten, die traditionell eher zu ihrer Partei neigen, die Wahl zu erschweren.

Im November finden in den USA die Midterm elections (Halbzeitwahlen) statt, bei denen das gesamte Repräsentantenhaus, ein Drittel des Senats sowie Gouverneure in 36 Staaten neu gewählt werden. Nicht selten wird dabei die Regierungspartei abgestraft und büßt wichtige Sitze im Kongress ein. Sollte sich dann bei den Präsidentschaftswahlen 2024 der republikanische Kandidat durchsetzen, könnte dies mit einer konservativen Mehrheit in der Legislative zu einer empfindlichen Änderung des Wahlrechts führen. Dass bei vielen die Bereitschaft vorhanden ist, diese gegen alle Widerstände durchzusetzen, hat der 6. Januar nachdrücklich gezeigt.

Von Johannes Senk und Thomas Spang (KNA)

Das Buch

Annika Brockschmidt: Amerikas Gotteskrieger – Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 432 Seiten, 16 Euro. ISBN 978-3-499-00648-7. E-Book: ISBN: 978-3-644-01006-2.