Vor 20 Jahren trat der "Boston Globe" den Missbrauchsskandal los
Erschüttert, fast ungläubig sitzen vier Personen zwischen Akten- und Papierstapeln um ein Telefon. Auf der anderen Seite erzählt ihnen ein Experte vom Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der katholischen Kirche – und dass das Problem in der Kirchenführung schon seit langem bekannt sei. Die vier Zuhörer, Zeitungsredakteure, schreiben mit. Ihre staunenden Mienen zeigen an: Hier liegt eine große Geschichte vor ihnen, viel größer, als sie es sich anfangs ausgemalt hatten.
Es ist dies nur eine Spielfilmszene, entnommen aus Tom McCarthys "Spotlight" aus dem Jahr 2015. Doch könnte die Arbeit des Rechercheteams, das den Missbrauchsskandal im Erzbistum Boston Anfang 2002 publik machte, tatsächlich so ausgesehen haben. Schließlich wird dem mit mehreren Oscars, unter anderem als Bester Film, ausgezeichneten Werk eine große Nähe zum realen Ablauf der Geschehnisse bescheinigt.
"Spotlight" – so lautete der Name der Investigativ-Einheit bestehend aus Michael Rezendes, Sacha Pfeiffer, Matt Carroll und Walter Robinson. Ausgehend von einer kurzen Berichterstattung über den Missbrauchstäter und Priester John Geoghan begann das Team auf Anregung des frisch eingetroffenen neuen Chefredakteurs Martin Baron dem Thema auf den Grund zu gehen. Dafür führten die Journalisten Gespräche mit Opfern, Psychologen, Anwälten, arbeiteten sich durch die Personalregister der Erzdiözese und durchforsteten alte Berichte und Gerichtsakten zu den Vorfällen. Am 6. Januar, dem Dreikönigstag, veröffentlichte "Spotlight" den Bericht im "Boston Globe".
Vertuschungssystem wird offengelegt
War schon der Umfang der Recherchematerialien immens, so war es erst recht das Ergebnis: Letztlich deckten die Redakteure nämlich nicht nur die schockierend hohe Anzahl an Geistlichen auf, die Missbrauch begangen hatten. Sie legten vor allem das Vertuschungssystem offen, wonach straffällig gewordene Priester unter Angabe vorgeschobener Gründe einfach in andere Gemeinden versetzt wurden. Alles geschah in Kenntnis der Erzdiözese und ihres Chefs, dem Kardinal Bernard Francis Law.
Die Bostoner Enthüllungsstory wird ab und an mit der Aufdeckung der Watergate-Affäre durch die Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward von der "Washington Post" verglichen – und das nicht zuletzt, weil auch diese mit "Die Unbestechlichen" (Originaltitel: "The President's Men") 1976 eine oscarprämierte cineastische Adaption erhielten.
Tatsächlich wurde der Globe-Report zu einem eigenen "Watergate" für die katholische Kirche. Dass gerade Boston, die Hauptstadt des Bundesstaates Massachusetts und Herzkammer des US-Katholizismus, im Zentrum der Enthüllungen stand, wirkte sich dabei besonders erschwerend aus – auf die Recherchen des Teams wie auch auf die Auswirkung des Berichts. Immer mehr Betroffene meldeten sich in der Folge, allein im Jahr 2002 veröffentlichte der "Globe" knapp 600 Beiträge zum Thema. Die Zahl der beschuldigten Geistlichen stieg auf 249 – nur im Erzbistum Boston.
Kardinal trat zurück
Der schwer belastete Law musste zurücktreten; er wurde kurz darauf nach Rom berufen. Zu seinem Nachfolger wurde ein Experte bestimmt: Kardinal Sean Patrick O'Malley, der aktuelle Amtsinhaber. Die Situation war ihm wohlbekannt: Bereits bei seinen vorangegangenen Stellen als Bischof von Fall River im Bundesstaat Massachusetts und seit 2002 als Bischof von Palm Beach in Florida war er mit Missbrauchsvorwürfen gegen Priester und sogar seine Amtsvorgänger konfrontiert gewesen.
Bei seinem Amtsantritt auf dem prestigereichen Bischofsstuhl im Nordosten der USA bat O'Malley erneut um Vergebung. Der Erzbischof galt und gilt als überzeugter und tatkräftiger Bekämpfer der Missstände. Um die Schmerzensgeldforderungen aufbringen zu können, verkaufte die Erzdiözese Teile ihres umfangreichen Besitzes – sogar das erzbischöfliche Palais.
Schmerzhafter Prozess angestoßen
Der Globe-Report stieß vor 20 Jahren einen schmerzhaften Prozess für die Kirche an, brachte allerdings auch eine heilende Wirkung mit sich. Jedoch kann nach 20 Jahren mit Sicherheit gesagt werden, dass die Aufarbeitung weiter andauert und wohl noch lange nicht abgeschlossen ist.
In Deutschland legte die Kirche 2018 die MHG-Studie vor, die für den Untersuchungszeitraum von 1946 bis 2015 auf 1.670 beschuldigte Priester und rund 3.700 von Missbrauch Betroffene kam. Noch gravierender die Zahlen des im Oktober vorgestellten Missbrauchsberichts der Ciase in Frankreich: Dieser schätzt die Zahl minderjähriger Opfer sexueller Übergriffe durch Priester, Ordensleute und Mitarbeiter der katholischen Kirche seit 1950 auf bis zu 330.000.
Anfang dieser Woche folgte nun ein erneuter Höhepunkt mit den Vertuschungsvorwürfen gegen die drei noch lebenden Erzbischöfe von München. Einer davon, Kardinal Joseph Ratzinger, wurde als Benedikt XVI. später Papst.