Kirchenrechtler Lüdecke: Auch erstes München-Gutachten veröffentlichen
Nach Ansicht des Bonner Kirchenrechtlers Norbert Lüdecke sollte in der kommenden Woche auch das erste Gutachten zu Missbrauch im Erzbistum München-Freising aus dem Jahr 2010 veröffentlicht werden – zumindest in Teilen und notfalls geschwärzt. Dem Bonner "General-Anzeiger" (Samstag) sagte er, es sei wichtig zu wissen, ob das neue Gutachten "nur die datenschutzrechtliche Absicherung der damaligen Befunde" sei oder ob es um neue Erkenntnisse gehe.
Weiter fragte der Kirchenrechtler: "Werden die entsprechend kenntlich gemacht? Und warum wurden die damals übersehen? Um einen diesbezüglich transparenten und umfassenden Blick zu ermöglichen, sollte das erste Gutachten wenigstens geschwärzt mitveröffentlicht werden. Oder gibt es gegebenenfalls andere Gründe für seine weitere Geheimhaltung?"
Datenschutzgründe sprachen gegen Veröffentlichung
Am Donnerstag wird die Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) ein zweites umfangreiches Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising veröffentlichen. Von einer ersten WSW-Untersuchung 2010 wurden nur wenige Ergebnisse veröffentlicht; das komplette Gutachten liegt im Tresor. Nach Auskunft des Erzbistums sprachen Datenschutzgründe damals gegen eine Veröffentlichung.
Das neue Gutachten wird vor allem deshalb weltweit mit besonderer Spannung erwartet, weil drei prominente Kirchenmänner im Fokus stehen, die heute noch leben. Allen voran geht es um Joseph Ratzinger (94), den späteren Papst Benedikt XVI. (2005-2013), der 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof war, sowie um seine Nachfolger dort, die Kardinäle Friedrich Wetter (93, Erzbischof 1982-2008) und Reinhard Marx (68, seit 2008).
Kirchenrechtler Lüdecke hatte sich kürzlich in der "Zeit"-Beilage "Christ und Welt" zu einer bisher unveröffentlichten Entscheidung eines Münchner Kirchengerichts von 2016 geäußert. Demnach habe Ratzinger 1980 bei der Aufnahme des Priesters Peter H. in München eine Meldepflicht gegenüber der Römischen Glaubenskongregation verletzt. Andere Kirchenrechtler gehen davon aus, dass es damals keine solche Pflicht gegeben habe.
H. war nach sexuellen Vergehen gegen Minderjährige aus dem Bistum Essen zur Therapie nach München geschickt worden, bald wieder in der Seelsorge eingesetzt worden und anschließend wiederholt durch neue Missbrauchstaten aufgefallen. Eine entscheidende Frage in der Angelegenheit ist, ob Ratzinger damals von den Hintergründen des Falls wusste. Sein Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein, verneinte dies im Namen von Benedikt XVI.
"Chiffrierungs(un)kultur" gehöre zum kirchlichen Umgang mit Missbrauchstaten
Lüdecke sagte jetzt dazu, von einem "pflichtbewussten Bischof" hätte man auf jeden Fall erwarten dürfen, dass er sich für solche Fälle interessiert. Doch zum weltweiten Muster des kirchlichen Umgangs mit Missbrauchstaten gehöre auch eine "Chiffrierungs(un)kultur", wie er es nennt. Sexuelles Fehlverhalten von Klerikern habe man etwa als "gesundheitliche und familiäre" oder "psychische Probleme", "freundschaftliche Verstrickungen" oder "Unvorsichtigkeiten" gegenüber Jugendlichen verklausuliert.
Dies habe anschließend allen Beteiligten ermöglicht, ohne Sorge um eine Widerlegung durch Aktenbelege zu behaupten, sie hätten von Missbrauch nichts gewusst, so Lüdecke weiter: "Damit erzielt die Methode, Missbrauchstaten nicht zu dokumentieren, ihren Vertuschungseffekt letztlich doch." (KNA)