Münchner Betroffenenbeirat: "Ein Armutszeugnis menschlicher Art"
"Die Perspektive der Betroffenen steht für uns im Erzbistum München und Freising jetzt im Mittelpunkt", sagte Kardinal Reinhard Marx in seiner ersten Reaktion auf das neue Missbrauchsgutachten. Richard Kick (65) vom Betroffenenbeirat des Erzbistums spricht am Freitag im Interview darüber, wie er den Donnerstag erlebt hat und was er jetzt erwartet.
Frage: Herr Kick, wie ging es Ihnen, nachdem zwei Stunden lang ein "Bericht des Schreckens" präsentiert worden war?
Kick: Einerseits war ich froh, dass nun sehr dezidiert die Dinge auf den Tisch gekommen sind. Andererseits gibt es eben noch ein extrem großes Dunkelfeld, und damit viele Betroffene, die sich nie getraut haben zu sagen, was ihnen passiert ist. Deutlich wurde durch das Gutachten auch die enorm große Verantwortungslosigkeit dieser drei Kardinäle in Folge, von denen einer auch noch Papst wurde. Dass die Dinge so lange unter dem Teppich gehalten wurden, da kann einem richtig schlecht werden.
Frage: Was stieß Ihnen noch auf?
Kick: Die Haltung des obersten Kirchenrichters. Der hat in seiner perfiden Art sogar Opfer wegen Verleumdung angezeigt, auch wenn er das ein paar Jahre später wieder revidiert hat. Auch ich selbst wurde von ihm diskreditiert, nur um den Täter zu schützen.
Frage: Wünschen Sie sich, dass noch mehr Betroffene den Mut aufbringen, Licht in dieses Dunkelfeld zu bringen?
Kick: Grundsätzlich ja, aber ich bin da etwas zögerlich. Jeder muss für sich selbst spüren, ob er das aushalten kann. Sich zu melden, heißt ja nicht nur zu sagen: Ich heiße so und so und da war was. Ich muss vielmehr mich an das erinnern, was die meisten versucht haben über Jahrzehnte zu vergessen und zu verdrängen. Das muss ich ins Bewusstsein holen und davon anderen erzählen. In der Erzdiözese gibt es bisher zwei unabhängige Ansprechpersonen, aber die Betreuung ist verbesserungswürdig.
Frage: Wie sollte die optimale Kontaktstelle aussehen?
Kick: Als Betroffenenbeirat haben wir bei Generalvikar Christoph Klingan darauf gedrängt, dass noch vor der Veröffentlichung des Gutachtens eine Stelle mit entsprechender Rufnummer eingerichtet wird, damit sich dort Betroffene melden können. Wenn jemand anruft, dann muss er von einer Person mit psychologischer Vorbildung angenommen werden, die weiß, wie man solche Gespräche führt. Da hat sich etwas geändert, auch wenn das Ganze noch in den Kinderschuhen steckt. Bisher steht einem niemand zur Seite, wenn es um Entschädigungsleistungen oder eine Therapie geht.
Frage: Wann tagt der Betroffenenbeirat wieder?
Kick: Wir sind noch am Abend, nachdem das Gutachten vorgestellt worden war, wieder zusammengekommen. Mit dabei waren auch der Generalvikar und Amtschefin Stephanie Herrmann. Klingan hatte bereits Anfang der Woche angeboten mit Frau Herrmann dazu zukommen. Das haben wir angenommen. Als wir uns nach drei Stunden aufgelöst haben, hat sich die Amtschefin bedankt, dass sie bei uns sein durften. Die beiden sind für uns die große Stütze der künftigen Aufarbeitung. Von ihnen werden wir ernstgenommen. Ihnen ist zugute zu halten, dass sie noch jung an Lebens- und Dienstjahren sind. Die haben selbst keine Vergangenheit aufzuarbeiten. Das ist unsere Chance, hier in der Erzdiözese.
Frage: Auf welche weiteren Schritte hoffen Sie als Konsequenz aus dem Gutachten?
Kick: Mein Wunsch wäre ein wirklich proaktives Zugehen auf Betroffene. Ich gehörte zu jener ersten Gruppe, die 2010 bei Kardinal Reinhard Marx persönlich ins Palais eingeladen waren, um mit ihm zu sprechen. Als er vor einigen Wochen nun bei uns im Beirat war, habe ich ihn gefragt, warum er sich bei mir seither nicht mehr gemeldet hat. Da lehnte er sich zurück und meinte, das sei eine gute Frage, die er sich auch schon gestellt habe. Aber es habe ihm ja niemand gesagt, dass er die Betroffenen nochmal kontaktieren solle.
Frage: Ihre Reaktion?
Kick: Das ist doch ein Armutszeugnis menschlicher Art, wenn er als Kardinal zwölf Jahre später sagt, das hätte man mir sagen müssen. Deshalb glaube ich, dass wir großen Druck machen müssen, damit proaktiv auf Betroffene zugegangen wird. Bei den vielen, die sich gemeldet haben, hat sich niemand von der Kirche gerührt. Auf den Wunsch des Beirats hin hat der Generalvikar nun dafür gesorgt, dass wir ab Mitte des Jahres einen Seelsorger bekommen, der selbst Betroffener sexuellen Missbrauchs ist.
Frage: Wie soll die Hilfe vor allem ausschauen?
Kick: In erster Linie geht es darum, miteinander zu reden. Inzwischen sind wir auch unter der E-Mail kontakt@betroffenenbeirat.de erreichbar. Schon drei Anfragen von Betroffenen sind eingegangen, die sich bisher noch nicht gemeldet hatten. Die Erzdiözese und voran Kardinal Marx müssen nun deutlich kommunizieren, dass die Tür geöffnet ist, damit sich jeder, der Hilfe braucht, melden kann. Natürlich wird es auch um Geld gehen, die jetzige Anerkennungsleistung ist eine Farce. So gibt es Betroffene, die 2.000 Euro dafür bekommen haben, dass sie seit 40 Jahren von einer Therapie zur nächsten gehen, Burnout haben und nicht mehr wissen, wie sie weiterleben sollen.