Die Missbrauchsaufarbeitung ist ein Zeichen eines Umkehrversuchs
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Es ist gibt ein katholisches Paradox. Das Erzbistum München beauftragt eine Kanzlei, die veröffentlicht ein akribisch recherchiertes und durch Zeugenbefragung untermauertes Gutachten zu Fällen sexualisierter Gewalt in der Kirche und dem erschreckenden und sogar rechtswidrigen Umgang damit. Verantwortliche werde mit Namen genannt und ihr oft abgehobenes und empathieloses Verhalten wird angeprangert. Schließlich werden strukturelle und systemische Missstände benannt und Vorschläge für konkretes Handel formuliert. Manches davon wird schon auf den Weg gebracht.
Und dann? Wieder einmal habe sich gezeigt, dass die katholische Kirche zur Aufarbeitung des Skandals nicht in der Lage sei. Wieder mal zeige sich, wie Verharmlosung und Vertuschung andauere. Und schließlich: eine staatliche Untersuchung oder eine Wahrheitskommission müsse endlich Licht ins Dunkel bringen. So oder so ähnlich tönt es die letzten Tage. Kurzum: die Missbrauchskrise der katholischen Kirche wird zur Hydra, jeder Kampf gegen sie verdoppelt das Problem.
Gewiss lässt sich die Krise der Kirche auch nicht schnell beenden, die Wunden – zumal die der Betroffenen – heilen langsam oder nie. Aber die These, es passiere nichts, die Kirche sei unfähig und unbelehrbar, einer Verbrecherorganisation gleich gar, lässt sich doch gerade aus den veröffentlichten Gutachten nicht belegen. München, Aachen, Köln, Berlin sind die zuletzt publizierten Studien, die in bislang unbekannter und umfangreicher Weise die Schrecken der Vergangenheit darlegen. Bald kommt Freiburg dazu. Trotz aller Mängel, wer hatte sowas vorher in dieser Weise gelesen?
Es gibt teilweise noch gravierende Unzulänglichkeiten in den Untersuchungen und in ihren Ergebnissen, erst recht was individuelle Einsicht und die generellen Konsequenzen angeht. Aber es lässt sich doch eine schlichte Tatsache festhalten: Keine Institution in Deutschland befasst sich so gründlich und radikal mit ihren eigenen Verfehlungen und Verbrechen wie die katholische Kirche. Es soll keiner dafür Dank erwarten, keiner sich zurücklehnen und auf andere zeigen. Aber die laufende Aufarbeitung ist nicht allein ein Zeichen von Unvermögen, sondern auch ein Zeichen eines Umkehrversuchs. In der Wiederholung eines immer dramatischer aufgeladenen Unfähigkeitsparadigmas versteckt sich eine falsche – möglicherweise sogar klerikal gefärbte – Erlösungshoffnung, die nicht zu erfüllen ist. In vorhersehbaren Empörungskaskaden hat keine Aufarbeitung eine Chance. Die Aufarbeitung dauert und sie dauert an, sie ist schmerzhaft, aber sie ist im Gange. Und das ist gut so.
Der Autor
Volker Resing ist Chefredakteur der Herder Korrespondenz.Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.