Theologe Halik: Kirche in Osteuropa spielt Missbrauch herunter
Missbrauch durch Geistliche nimmt die katholische Kirche in Osteuropa nach Einschätzung des tschechischen Theologen Tomas Halik nicht ernst genug. "Wir müssen die teuflische Versuchung zu behaupten, die Probleme des sexuellen, psychologischen und geistlichen Missbrauchs seien Krankheiten des 'korrupten Westens', radikal zurückweisen", schreibt Halik in der aktuellen Ausgabe der in Erfurt erscheinenden Zeitschrift "Theologie der Gegenwart".
"Es gibt eine Reihe von Gründen für die Tendenz in den postkommunistischen Ländern, das Problem des klerikalen Missbrauchs zu leugnen", so Halik. "Durch die staatliche Verfolgung der Kirche wurden der interne Zusammenhalt und die Solidarität gefördert. Die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass man nicht bereit war, die dunklen Schatten in den eigenen Reihen zu sehen." Die Realität einer Kirche, die selbst Leid verursacht, passe nicht in das Bild einer leidenden Kirche der Märtyrer.
"Verführerische Selbsttäuschung"
Die "verführerische Selbsttäuschung über eine reinere Kirche des Ostens" habe sich im postkommunistischen Europa durchgesetzt. "Nach dem Fall des Kommunismus konnten einige Christen nicht ohne den Feind leben. Der 'korrupte liberale Westen' wurde der ideale Ersatz für den alten Feind. Katholiken, die einst von den Kommunisten verfolgt wurden, begannen nun, die antiwestliche Rhetorik zu verwenden, die die Gehirnwäsche der kommunistischen Propaganda in ihrem Unterbewusstsein hinterlassen hatte", führt Halik aus. Er wurde 1978 in Erfurt heimlich zum Priester geweiht und wirkte dann in der damaligen Tschechoslowakei in der "Untergrundkirche".
"Das Konzept der 'Auserwählten' (das Bild des leidenden Messias und eines leidenden Volkes) half den Kirchen, in Zeiten der Verfolgung zu überleben; aber nach dem Fall des Kommunismus, als die traurigen Folgen von Verfolgung und Isolation deutlich wurden, wurden diese Selbstbilder zur Kompensation für den Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen", analysiert Halik.
Mit Blick auf Polen schreibt er, die aktuelle Welle von Enthüllungen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche habe ein "Erdbeben" ausgelöst. Der Missbrauch sei dabei nur ein Aspekt des Problems. "Wenn es der polnischen Kirche jetzt nicht gelingt, die gegenwärtige Krise als 'kairos' und als Aufruf zu tiefgreifenden Reformen zu verstehen, wenn die Kirche der polnischen Gesellschaft – und insbesondere der jungen Generation – nicht ein anderes Gesicht des Christentums zeigt, wird der Prozess der Säkularisierung in Polen noch radikaler sein als in Spanien und Irland", prophezeit Halik. (KNA)