Moraltheologe Goertz: Überlieferte katholische Sexualmoral am Ende
Der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz sieht die überlieferte katholische Sexualmoral am Ende. Die Ansicht des kirchlichen Lehramtes, Sexualität sei "nur im Raum der Ehe als moralisch legitim zu bewerten" und "davon abweichende Formen zu pathologisieren" sei gescheitert, schreibt Goertz in einem Beitrag für die März-Ausgabe der Herder Korrespondenz. Ein Lehrgebäude sei zusammengebrochen, "in dem sich kaum noch jemand moralisch beheimatet fühlt", so der Moraltheologe. Die Zustimmung zahlreicher hochrangiger Kirchenvertreter wie Bischöfen und Generalvikaren zu den Forderungen der Coming-Out-Aktion "#OutInChurch" würden eine "Abwendung von der bisherigen Doktrin" in der Kirche in Deutschland belegen.
Ende Januar hatten sich 125 haupt- und ehrenamtliche deutsche Kirchenmitarbeitende öffentlich zu ihrer queeren Identität bekannt. In der vergangenen Woche hatten elf Generalvikare daraufhin eine Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts in diesem Bereich gefordert, nachdem zuvor bereits mehrere Diözesen angekündigt hatten, ab sofort keine queeren Mitarbeiter wegen Verstößen gegen die Sexualmoral der Kirche zu kündigen.
Die "#OutInChurch" unterstützenden Bischöfe stellten sich gegen die kirchliche Lehre, Homosexualität sei "als Orientierung eine 'objektive Unordnung', als Verhalten eine 'schwere Sünde' und als Beziehung gegen den 'Plan Gottes'", so Goertz weiter. Während der Pontifikate von Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. habe sich die Deutsche Bischofskonferenz der vom Vatikan erwarteten Verteidigung der kirchlichen Sexuallehre „gehorsam gefügt“. Doch unter Papst Franziskus fühlten sich die Bischöfe frei, im Dissens zur offiziellen Lehre der Kirche zu sprechen. Es bleibe jedoch offen, wie viele der deutschen Diözesanbischöfe die Anliegen, wie eine Reform des Arbeitsrechts, auch umsetzen würden. "Um diejenigen, die affirmativ die implodierende Lehre verteidigen, Theologinnen und Theologen wie Bischöfe", sei es jedoch "stiller geworden". Manche würde die eigene Marginalisierung trotzig als Beleg für die Wahrheit der kirchlichen Lehre deuten.
Kritik übte Goertz jedoch auch an der reformfreundlichen Theologie: Die Entwicklungen innerhalb der Kirche rund um die Coming-Out-Initiative seien zwar theologisch vorbereitet worden, doch Theologen müssten erkennen, "dass Memoranden und Erklärungen als solche noch keine unmittelbar die Praxis verändernde Dynamik entfalten" würden. Die Theologie spiele eine bescheidenere Rolle in Reformprozessen als es dem Selbstbewusstsein vieler Theologen entspreche. Für die Umsetzung der in Deutschland geplanten Reformen in der Weltkirche werde es entscheidend sein, dem Vorwurf entgegenzutreten, "der neue Umgang mit sexuellen Minderheiten sei ein deutscher Sonderweg". An diesem Punkt sei mit harten und langwierigen Auseinandersetzungen zu rechnen.
Der Trierer Moraltheologe Johannes Brantl mahnte ebenfalls in der aktuellen Ausgabe der Herder Korrespondenz an, die Konsequenzen der angestrebten "neuen Sexualethik" zu bedenken: Die kirchliche Sexualmoral werde "auf diese Weise in eine totale Profillosigkeit überführt". So führe die Einrichtung einer Segensfeier für homosexuelle Paare in letzter Konsequenz zu einer kirchlichen "Ehe für alle". Der Grund sei ein rasch nach einer entsprechenden Reform einsetzender Diskriminierungsvorwurf, der eine volle Gleichberechtigung queerer Paare in der Kirche und deshalb auch die Eheschließung fordern werde. Wer mit Blick auf die Beratungen beim Synodalen Weg anderes annehme, habe "die einschlägigen Texte aus dem Synodalforum IV in ihrer ganzen Tragweite noch nicht wirklich erfasst".
Außerdem kritisierte Brantl die "ziemlich willkürlichen Grenzen" bei einer Abkehr von der traditionellen Ehelehre der Kirche. Bei Verzicht auf die biblisch fundierten Merkmale der Gegengeschlechtlichkeit der Ehegatten werde künftig auch nicht mehr zu begründen sein, weshalb die Kirche etwa polyamoren Beziehungen und anderen "Neosexualitäten" Anerkennung und Respekt verweigern könne. Beim Synodalen Weg werde zwar ausschließlich von Paaren gesprochen, die die Kirche segnen könne, doch dies sei bei Umsetzung der Reformen keine "selbstverständliche Beschränkung" mehr. Stattdessen sei bei der Diskussion über diese Thematik eine Grundsatzdiskussion darüber angebracht, ob "ein lebendiger Glaube in jeder Lebenssituation nicht auch etwas Sperriges, Provozierendes und Unangepasstes" habe. Zudem dürfte bei entsprechenden Diskussionen nicht auf den Prozess der "Unterscheidung der Geister" verzichtet werden. Entscheidend sei, was auf Dauer zu einem Zuwachs an Glauben führe. (rom)