Standpunkt

Missbrauch in der Kirche hat nichts mit dem "Zeitgeist" zu tun

Veröffentlicht am 24.02.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Um das frühere Handeln der Kirche bei Missbrauch zu erklären, bemühen manche die damaligen Umstände: Der "Zeitgeist" sei mitverantwortlich, dass über vieles hinweggesehen wurde. Diese Sicht verfälsche die Realität, kommentiert Matthias Altmann.

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Vieles, was die Humanwissenschaften im Bereich Sexualität in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht haben – etwa die Gendertheorie oder die Neubewertung von Homosexualität –, wird in gewissen Kirchenkreisen gerne als zeitgeistiger Irrtum gebrandmarkt. Doch wenn es in das eigene Bild passt, scheint der "Zeitgeist" plötzlich doch herhalten zu dürfen. Und zwar ausgerechnet beim Thema sexueller Missbrauch.

Ob es der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist, Bischöfe oder jetzt der Benediktiner Notker Wolf: Sie alle bringen den Zeitgeist ins Spiel, von dem sich die Kirche bei der Behandlung früherer Fälle habe verleiten lassen. So dürften die Dinge, die in den 1970er-Jahren passiert sind, nicht vom heutigen moralischen Standpunkt aus beurteilt werden, da sie damals keiner wirklich ernst genommen habe. Schnell wird dabei auch die sexuelle Revolution nach 1968 als Ursache für Missbrauch bemüht, statt auf systemische Ursachen in der Kirche zu blicken: Schließlich weisen die Missbrauchsgutachten hohe Fallzahlen in den Jahren danach auf – und die Grünen plädierten in der Zeit dafür, Pädophilie zu legalisieren.

Dass diese Sichtweise die Realität verfälscht, wird schnell klar. Auch in den 1940ern und 1950ern hat es aktenkundige Missbrauchsfälle gegeben. Da die Sexualität an sich zu dieser Zeit ein noch viel größeres Tabuthema war, dürften Übergriffe aber nur in den seltensten Fällen Eingang in die Personalakten gefunden haben. Das vorherrschende Kirchenbild jener Zeit erlaubte es schlicht nicht, dass man sich auch nur im Ansatz mit einem solchen "Problem" auseinandersetzt.

Was bleibt, ist die Frage: Hätte nicht gerade die Kirche Missbrauch auch in den 1970er Jahren ernst nehmen sollen? Immerhin war sie von der Richtigkeit ihrer überlieferten Sexualmoral und der priesterlichen Enthaltsamkeit (Zölibat) überzeugt. Wer sich so rigide beim Thema Sexualität gibt, hätte doch gerade beim sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in seinen Reihen gegen den "Zeitgeist" rebellieren müssen. Und überhaupt: Warum haben sich ausgerechnet Priester von ihm "anstecken" lassen?

Von Matthias Altmann

Der Autor

Matthias Altmann ist Redakteur bei katholisch.de.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.