Franz-Josef Bormann plädiert für zweigleisige Politik

Theologe: Tyrannenmord ethisch keine tragbare Vorstellung

Veröffentlicht am 03.03.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Professor Franz-Josef Bormann ist Moraltheologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen.
Bild: © KNA

Tübingen ‐ Soll Deutschland Waffen an die Ukraine liefern oder heizt das nur den Krieg an? Der Tübinger Moraltheologe Franz-Josef Bormann, auch Mitglied im Deutschen Ethikrat, erklärt im katholisch.de-Interview das Konzept des gerechten Krieges – und welche Optionen Christen haben.

  • Teilen:

Die Bilder der Angriffe und Zerstörungen in der Ukraine durch den von Russlands Präsident Wladimir Putin angezettelten Krieg gehen um die Welt. Wie sollten sich Christen in dieser Situation verhalten? Der Tübinger Moraltheologe Franz-Josef Bormann, der auch Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, spricht im Interview über christliche Perspektiven auf Krieg, Frieden und Unterstützung für die Schwachen.

Frage: Herr Bormann, gibt es einen gerechten Krieg?

Bormann: Den gibt es zweifellos. Diese Überzeugung herrschte schon in der antiken Philosophie vor und wurde in der katholischen Kirche über Jahrhunderte weiterentwickelt und verfeinert. Ein gerechter Krieg (bellum iustum) ist an bestimmte Vorbedingungen gebunden, die Thomas von Aquin mit Rückgriff auf die Antike so beschreibt: Erstens muss der Krieg von einer legitimen Instanz (recta auctoritas) erklärt, organisiert und durchgeführt werden. Es kann also nicht jede Privatperson einen gerechten Krieg führen, sondern es ist eine staatliche Legitimation notwendig. Zweitens bedarf es eines gerechten Grundes (causa iusta). Ein Krieg ist nur so lange gerecht, wie er die Reaktion auf ein schweres Unrecht darstellt, das bekämpft werden darf und sollte, damit das Unrecht nicht weiter um sich greift. Drittens muss die richtige Absicht (intentio racta) bestehen. Man darf also auch bei einem gerechtfertigten Grund nicht jedes beliebige selbstgewählte Ziel verfolgen. Die Absicht des Kriegführenden muss darauf gerichtet sein, das Unrecht mit verhältnismäßigen Mitteln zu überwinden und den ursprünglichen Rechtszustand wieder herzustellen. Darüber hinaus dürfen keine eigenen partikularen Interessen verfolgt werden.

Frage: Wenn wir auf die jetzige Situation schauen und die Frage, ob etwa Deutschland Waffen an die Ukraine liefern soll – wie sieht die Lage unter dem Blickwinkel des gerechten Krieges aus?

Bormann: Das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt wohl niemand infrage. Sie sind das Opfer einer Aggression und einer völkerrechtswidrigen kriegerischen Aktivität durch Wladimir Putins Russland. Deswegen hat die Ukraine das Recht, sich zu verteidigen und andere Länder haben das Recht, sie dabei zu unterstützen. Dies gilt umso mehr, als sich die russischen Truppen noch nicht einmal an die Regeln des humanitären Kriegvölkerrechts halten und zivile Einrichtungen angreifen. Wenn andere Länder in dieser Situation Waffen an die Ukraine liefern, tun sie das, um einem Gewaltopfer die Möglichkeit zu geben, sich gegen eine völlig ungerechtfertigte Aggression zu verteidigen. Sofern diese Waffenlieferungen der effizienten und verhältnismäßigen Selbstverteidigung dienen, sind sie als gerechtfertigt einzuschätzen.  

Frage: Besteht dann auch eine moralische Pflicht, Waffen an die Ukraine zu liefern?

Bormann: Wenn ein viel stärkerer Aggressor einen viel schwächeren Gegner überfällt, müssen die Anrainerstaaten handeln, um diesem überfallenen Opfer zu helfen. Das natürlich immer im Rahmen ihrer Möglichkeiten und mit der Perspektive, die Aggression so bald als möglich zu beenden. Es besteht hier also durchaus eine moralische Pflicht zur Unterstützung der Ukraine. Weiterhin muss aber darauf geachtet werden, dass keine endlose Eskalationsspirale entsteht. So sehr also einerseits eine Hilfspflicht besteht, so sehr besteht andererseits die Verpflichtung zu politischem Handeln, um diese Aggressionssituation aufzulösen.

Es kommt also im Blick auf die jeweils ergriffenen Maßnahmen auch auf den Zeitpunkt an: Momentan wird in der Politik argumentiert, es bestehe noch ein Zeitfenster, um die Ukrainer in ihrem legitimen Abwehrkampf mit Material zu unterstützen. Das wird mit Wirtschaftssanktionen und einer Isolation Russlands unterstützt. Gleichzeitig muss eine Verhandlungsoption gewahrt und geöffnet werden, auch kirchlicherseits. Ziel aller Maßnahmen muss es sein, die grundlegende Rechte des Aggressionsopfers – also die territoriale Integrität und das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine – zu verteidigen und den Stauts quo ante wiederherzustellen.

„Wir können und sollen als Christen am Aufbau einer zivilen Ordnung mithelfen, die das Entstehen totalitärer Systeme erschwert oder behindert.“

—  Zitat: Franz-Josef Bormann

Frage: In der Antike gab es das Konzept des Tyrannenmords. Kann es gerechtfertigtes Mittel sein, Putin einfach zu töten, damit es nicht noch mehr Opfer gibt?

Bormann: Damit wäre ich sehr vorsichtig. Wenn wir jetzt anfangen würden, alle unliebsamen Staatschefs dieser Welt mit Verweis auf den Tyrannenmord aus dem Weg zu räumen, wäre das sicher nicht die richtige Lösung. Man darf die Gesellschaftsordnung eines antiken Stadtstaates nicht einfach so auf moderne Großimperien anwenden. Die antike Grundidee geht davon aus, dass nach einem Tyrannenmord aus den Kreisen der demokratischen Gremien neue, gerechtfertigte Regierende heranwachsen. Fatal ist etwa bei Putin, dass er in den vergangenen Jahren alles daran gesetzt hat, eine vitale Opposition zu zerstören. Dieses Nachrücken demokratischer Kräfte wäre also nicht möglich, weil es diese nicht in ausreichendem Umfang gibt, sondern das totalitäre System unter den russischen Eliten eine breite Basis hat. Zahlreiche Oligarchen profitieren vom Putin-Regime. Diese Eliten würden durch eine Ermordung Putins nicht einfach verschwinden. Man darf dieses totalitäre Regime also nicht unterschätzen. Die jetzige Situation also mit einem Tyrannenmord bereinigen zu wollen, halte ich für keine tragbare Vorstellung.

Frage: Welche Optionen lässt eine christliche Sicht auf die Welt noch zu?

Bormann: Jeder Christ hat wie jeder andere Mensch auch ein legitimes Selbstverteidigungsrecht. Niemand ist verpflichtet, sich völlig wehrlos zu machen oder der eigenen Massakrierung tatenlos zuzusehen. Die christliche Friedensethik hat in den vergangenen Jahren eine Weiterentwicklung erfahren, weg von der reaktiven Lehre des gerechten Krieges hin zu einer präventiven Konzeption des gerechten Friedens. Das bedeutet, in Friedenszeiten demokratische Strukturen zu implementieren und die Demokratie zu stärken. Weiterhin vonnöten sind gerechte Wirtschaftsbeziehungen im globalen Maßstab und vieles mehr – diese Schritte fördern den Frieden. Wir können und sollen als Christen am Aufbau einer zivilen Ordnung mithelfen, die das Entstehen totalitärer Systeme erschwert oder behindert. Wenn es dennoch zu kriegerischen Handlungen wie jetzt in der Ukraine kommt, können und sollten wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zivilgesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch dagegen vorgehen. Das kann natürlich niemand alleine tun, hier bedarf es also vielfältiger Abstimmungen nicht nur innerhalb Europas, sondern auch auf globaler Ebene.

Da nehmen wir gerade die sehr positive Entwicklung wahr, dass Europa in dieser Situation frühere Spaltungen zu überwinden versucht. Das ist einerseits löblich, zeigt aber andererseits die strukturellen Schwächen des Systems. Für die Zukunft brauchen wir eine europäische Sicherheitsarchitektur, in der die einzelnen Staaten mehr investieren müssen, als sie bislang getan haben. Wir können uns nicht permanent nur auf die Vorleistungen unserer Alliierten verlassen ohne auch als Deutsche unseren eigenen Beitrag zu leisten. Diese Entwicklung müssen wir korrigieren. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern benötigt jahrzehntelange Arbeit. Wenn es etwas Gutes an dieser Krise gibt, dann, dass diese Fehler offenkundig geworden sind und nun vielleicht die politische Kraft entsteht, daraus Lehren zu ziehen und die Weichen anders zu stellen. Das wird viel Geld und Engagement kosten, ist aber dringend geboten.

Von Christoph Paul Hartmann