Angst vor Angriffen und Sabotage: So sieht es im Westen der Ukraine aus
Der russische Krieg gegen die Ukraine findet bislang vor allem im Süden und Osten des Landes sowie rund um die Hautstadt Kiew statt, die seit ein paar Tagen immer stärker unter Beschuss steht. Doch die Realität des Krieges ist längst auch in den anderen Landesteilen angekommen. So auch in Czernowitz im Westen der Ukraine. Hier, rund 30 Kilometer von der rumänisch-ukrainischen Grenze entfernt, harrt Vasyl Savka aus, der Geschäftsführer des ukrainischen Kolpingwerks.
Er bestätigt im Gespräch mit katholisch.de, dass der Krieg auch in Czernowitz trotz der großen Entfernung zur Front bereits allgegenwärtig ist. Zwar habe es bisher noch keine direkten russischen Angriffe auf die Stadt mit ihren rund 260.000 Einwohnern gegeben. Aber: "Jede Nacht seit Beginn dieses aggressiven Krieges haben bislang die Sirenen geheult und vor möglichen Luftangriffen gewarnt. Die Menschen müssen sich dann immer so schnell wie möglich in Kellern und Luftschutzbunkern verstecken." Außerdem gälte seit Beginn des Krieges in der Stadt wie im restlichen Land von 22 bis 6 Uhr eine strenge Ausgangssperre. Niemand dürfe dann vor die Tür, das Militär kontrolliere das scharf.
Sorge vor russischen Sabotagegruppen
Sorge bereiten Savka nach eigenen Angaben derzeit vor allem russische Sabotagegruppen, die im ganzen Land unterwegs sein sollen und es auf die kritische Infrastruktur der Ukraine abgesehen haben. "Diese Gruppen versuchen, militärische und technische Einrichtungen zu zerstören, Daten über Marschrouten der ukrainischen Armee zu sammeln und Raketen- und Bombenangriffe zu koordinieren", erklärt der Kolping-Geschäftsführer. Er selbst habe bislang aber noch keinen direkten Kontakt mit "russischen Aggressoren" gehabt – "Gott sei Dank".
„Russlands Invasion hat zur Folge, dass in den ersten Tagen mehr als 835.000 Menschen die Ukraine verlassen haben und dazu noch mindestens 200.000 Binnenflüchtlinge im Land selbst unterwegs sind.“
Auch das Kolpingwerk ist nach seinen Angaben bislang glimpflich davon gekommen. Dies liege jedoch vor allem daran, dass der Verband schwerpunktmäßig im Westen der Ukraine aktiv sei – also dort, wo es bislang nur wenige Angriffe gegeben hat. Immerhin: Dadurch ist es Savka und seinem Verband möglich, sich intensiv um eine der dramatischsten Folgen des Krieges zu kümmern – die Hunderttausenden Flüchtlinge, die allein in der ersten Woche der russischen Angriffe innerhalb der Ukraine und in Richtung der westlichen Nachbarländer geflohen sind.
Mehr als eine Millionen Flüchtlinge
"Russlands Invasion hat zur Folge, dass in den ersten Tagen mehr als 835.000 Menschen die Ukraine verlassen haben und dazu noch mindestens 200.000 Binnenflüchtlinge im Land selbst unterwegs sind. In Czernowitz zum Beispiel sind schon mehr als 6.000 Vertriebene angekommen. Diese Situation hat eine tiefe Krise für Unterkunft und Verpflegung geschaffen", erzählt Savka. Die Hauptaufgabe seines Verbandes sei es derzeit, den Binnenflüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu organisieren. "In allen ukrainischen Städten, in denen Kolping über Immobilien verfügt oder sie anmietet, haben wir Möglichkeiten für die Aufnahme von Flüchtlingen und ihre Versorgung mit notwendigen Sachen eingerichtet", so der Geschäftsführer. In den Zentren des Verbands, die sich vor dem Krieg um Behinderte, Senioren, Studierende und Jugendliche gekümmert hätten, seien nun Schlafplätze für Flüchtlinge eingerichtet worden.
Dass das ukrainische Kolpingwerk in dieser Weise Hilfe leisten könne, sei auch aufgrund der großen Unterstützung der internationalen Kolpingfamilie möglich, betont Savka: "Wir Kolpingbrüder und Kolpingschwestern der Ukraine haben die Bedeutung des Wortes 'Solidarität' dank der großen internationalen Hilfe ganz neu und eindrücklich zu spüren bekommen." Schon in den ersten Stunden und Tagen des Krieges hätten er und die Kolpingfamilie in der Ukraine hunderte E-Mails und Nachrichten aus der ganzen Welt mit tröstenden Worten, Unterstützungsangeboten und Gebeten bekommen. "Außerdem bekamen wir unheimlich viele Angebote von den Kolping-Nationalverbänden, von Diözesanverbänden in Deutschland und einzelnen Kolpingsfamilien, die humanitäre Hilfe und die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen in ihren Ländern angeboten haben", sagt Savka. Für diese "grandiose Unterstützung" wolle er sich im Namen des ukrainischen Volkes bei Kolping International und allen Kolpingschwestern und Kolpingbrüdern bedanken.
"... und dann wir werden unsere Heimat wieder aufbauen"
Danach gefragt, was er und sein Verband in diesen Tagen am meisten benötigen, nennt der Geschäftsführer warme Kleidung, feste Schuhe, Taschenlampen, Diesel-Generatoren, Klappbette und Matratzen – "all das, was man noch vor acht Tagen in den Geschäften konnte", sagt er, und es schwingt Bitterkeit in seinen Worten mit. Besonders kritischen Bedarf gebe es zudem mit Blick auf Medikamente und medizinische Ausrüstung für Krankenhäuser und die ukrainische Armee. Diese Form der humanitären Hilfe habe jetzt prioritäre Bedeutung.
Trotz der dramatischen Lage in der Ukraine ist Savka nicht hoffnungslos. Er blicke durchaus mit Zuversicht in die Zukunft und bete für das baldige Ende "dieses schrecklichen Krieges". Die Ukrainer seien ein friedliches Volk, aber auch ein tapferes Volk, das weiter für seine Freiheit und Souveränität kämpfen werde. "Der Krieg wird bestimmt bald enden, und dann wir werden unsere Heimat wieder aufbauen", sagt Savka zum Ende des Gesprächs voller Hoffnung – kurz bevor er sich wieder mit ganzer Kraft der Hilfe für die Flüchtlinge in Czernowitz zuwendet.