Standpunkt

Der Schutz einer Illusion von Kirche ist der falsche Reflex

Veröffentlicht am 16.03.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ "Wir haben ein massives Problem, und das ist die Illusion von der Kirche als heiler Welt", resümierte die Philosophin Doris Reisinger angesichts zahlreicher Missstände in der Kirche. Joachim Frank erinnert das an den Propheten Amos.

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An den Propheten Amos musste ich denken, als ich las, was die Frankfurter Philosophin Doris Reisinger jüngst über die katholische Kirche und die Missbrauchskrise gesagt hat. Ihre Rede zur Verleihung des "Herbert-Haag-Preises für Freiheit in der Kirche" ist ähnlich schneidend, schonungslos und unerbittlich wie die Worte des alttestamentlichen Propheten, der den Mächtigen seiner Zeit ihre Frevel vorhielt und ihnen mit dem Untergang drohte. "Denn siehe, der Herr befiehlt, und man schlägt das große Haus in Stücke und das kleine in Trümmer."

In Reisingers Analyse hat sich die Kirche in ihrer heutigen Gestalt bereits ruiniert. Der Missbrauchsskandal legt das bloß. Aber: "Wir haben ein massives Problem, und das ist die Illusion von der Kirche als heiler Welt. Es klingt absurd, aber auch in einer Zeit, in der das Wort Kirche fast schon synonym mit dem Wort Missbrauch ist, halten viele noch an Illusionen über die Kirche fest."

Doris Reisinger trifft – zumindest bei mir – einen empfindlichen Punkt: Ist die Illusion von der guten und vertrauenswürdigen Kirche nicht auch mein Wunschbild? Hege ich, hegen die vielen, die sich (noch) in der Kirche engagieren, nicht tatsächlich die Hoffnung, es gebe Aussicht auf Besserung, auf Reinigung, Erneuerung – oder auch auf die Freilegung eines "Wesenskerns", auf den man sich nur neu konzentrieren müsste, dann würde alles wieder gut? Und wie könnte man überhaupt noch in dieser Kirche sein ohne solch eine Hoffnung?

Reisinger hingegen spricht von Illusionen – und warum sie den schönen Schein für ein Fantasiegebilde hält. "Um es in einem Wort zu sagen, diese sogenannte Missbrauchskrise ist ein einziger Clusterfuck: eine heillos verfahrene Situation aus massenhaft Unwissen, Intransparenz, Inkompetenz, Wunschdenken, PR, Skrupellosigkeit, Machtkonzentration, Machtverschleierung, Gaslighting (psychischer Manipulation), entsetzlichem Leiden und spirituellem Kitsch."

Ist das zu radikal? Fundamentalistisch gar, weil (unerreichbare) Ideale gegen eine (notwendig gebrochene) Wirklichkeit stehen? Die Antwort ist: Nein. Denn für jeden Kritikpunkt gibt es schrecklich passende Beispiele. Und die "Ja, aber"-Abwehr von "privilegierteren Katholikinnen und Katholiken" (Reisinger) zum Schutz ihrer Illusion wäre der vielleicht verständliche, aber ganz sicher der falsche Reflex.

Wenn Reisinger am eigenen Beispiel von der Verletzlichkeit der Opfer, ihren angewiderten Reaktionen auf routinierte Floskeln und von ihrer Ohnmacht angesichts einer nur behaupteten Aufarbeitung spricht, dann ist auch das prophetische Rede. Sie führt an den Rand des Abgrunds.

Wer dort zu stehen kommt, muss sich entscheiden: Weitergehen und abstürzen? Einfach nur stehenbleiben? Oder kehrtmachen und (endlich) neue Wege einschlagen? "Hasst das Böse, liebt das Gute, und bringt im Tor das Recht zur Geltung." Der Rat des Amos wäre ein Anfang.

Von Joachim Frank

Der Autor

Joachim Frank ist "DuMont"-Chefkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion des "Kölner Stadt-Anzeiger". Außerdem ist er Vorsitzender der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands (GKP). Die GKP verleiht mit der Deutschen Bischofskonferenz und dem Katholischen Medienverband jährlich den Katholischen Medienpreis.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.