Lehrer: Schulen als pastorale Orte werden zu oft vernachlässigt
Was macht eine katholische Schule aus? Zur Klärung dieser Frage hat die Kongregation für das Bildungswesen Ende März ein Papier erlassen. Aus Sicht von Johannes Stollhof hat der Vatikan in Fragen der Bildung und Erziehung oft einen Blickwinkel, der in der deutschen Kirche fehlt. Stollhof ist promovierter Theologe und Gymnasiallehrer für katholische Religion und Politik und leitet die "Akademie Kloster Sießen: Zentrum für franziskanisch motivierte Pädagogik". Das ist eine Weiterbildungseinrichtung für Lehrerende, Eltern und Schülerinnen und Schüler der Ordensschulen Trägerverbund gGmbH in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Im Interview erklärt er, welche Punkte er für die kirchlichen Schulen in Deutschland besonders relevant findet.
Frage: Herr Stollhof, vor gut einem Monat hat der Vatikan eine Instruktion zur Identität katholischer Schulen veröffentlicht. Wie haben Sie das Dokument wahrgenommen?
Stollhof: Wenn aus Rom etwas zum Thema Bildung und Erziehung kommt, bin ich immer gespannt, denn die Kurienmitarbeitenden haben oft eine Perspektive, die in der deutschen Kirche fehlt. Das finde ich auch in diesem Papier. Es hat bei uns genau ins Schwarze getroffen: Wenn die Instruktion von einer Kultur des Dialogs spricht, dann ist das genau das, was wir in der Personal-, der Schul- und auch der Unterrichtsentwicklung umsetzen wollen. Von daher habe ich weder gedacht "Jetzt müssen wir nochmal ran" noch "Was aus Rom kommt, lassen wir mal". Ich fand es spannend, dass der Vatikan davon spricht, die katholische Identität weit zu fassen. Das würde ich für kirchliche Schulen in Deutschland als etwas wirklich Relevantes ansehen.
Frage: Wie sieht der Diskurs um die Identität katholischer Schulen generell aus?
Stollhof: Wenn wir Schülerinnen und Schüler aufnehmen, führen wir Aufnahmegespräche. Dabei bewegen sich die Gespräche innerhalb zweier Pole. Das eine Extrem sind manche Eltern, die ihr Kind auf eine katholische Schule schicken, weil sie eine "deutsche" Schule möchten, ohne Migrantinnen und Migranten. Das ist ein Punkt, der uns manchmal auch von politischer Seite entgegengehalten wird. Den anderen Pol bilden Eltern, die uns erklären wollen, was katholisch ist – manchmal sogar, ohne selbst katholisch zu sein. Zwischen diesen beiden Extremen findet sich alles. Die große Mitte sagt: Wir schicken unser Kind auf eine katholische Schule, weil sie einen guten Ruf hat und man hier einen gescheiten Abschluss hinbekommt. Ich finde es sehr hilfreich vom Vatikan, dass das Katholische einer katholischen Schule hier nicht eng gefasst wird.
Frage: Was ist denn das Katholische an einer katholischen Schule?
Stollhof: Wir sind freie katholische Schulen und leben aus dem salvatorianisch-franziskanischen Ordenscharisma. In Bezug auf den heiligen Franziskus ist das etwa die Dialogfähigkeit mit anderen, egal ob Brüder und Schwestern, einem Sultan oder der Natur. Das sind Haltungen und Werte, die wir versuchen zu leben und umzusetzen – auch im Unterricht. Vor einigen Jahren haben wir in Kooperation mit der Hochschule Sankt Georgen eine Studie in zehnten Klassen von katholischen Schulen durchgeführt und gefragt, wie das religiöse Profil wirkt. Dabei kam heraus, dass explizit religiöse Momente – zum Beispiel Gottesdienste oder Fahrten nach Assisi – im pubertierenden Alter kaum eine Rolle spielen. Es sind eher implizite Dinge, die sie erleben: Zum Beispiel der achtsame Umgang miteinander, die Beziehungsarbeit zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern, die sie als zentral erleben, aber auch die Ausstattung des Schulgebäudes.
Frage: Mit Blick auf die Lehrerinnen und Lehrer hieß es im Dokument, dass sie nicht nur durch ihren Unterricht, sondern auch durch ihr Leben Zeugnis für Jesus Christus ablegen sollen. Wie zeitgemäß ist diese Aussage des Vatikan?
Stollhof: Wir haben an unseren Schulen nicht nur katholische Lehrkräfte. Das geht überhaupt nicht mehr – und das wollen wir auch nicht. Wir haben evangelische Schulleitungen und Lehrkräfte, ungetaufte, aber auch muslimische Kolleginnen und Kollegen. Kirchenrechtlich betrachtet kann man darin vielleicht eine Schwierigkeit sehen. Wenn man sich die Bibel anschaut, hat man aus meiner Sicht aber keine Probleme. Wer war denn Jesus Christus? Ein Mensch, der anderen vom Reich Gottes erzählt hat, ihnen auf Augenhöhe begegnet ist, der die Armen, Kranken und Schwachen hineinholen wollte in die Gesellschaft. Das sind doch zutiefst pädagogische Haltungen! Wenn es Lehrerinnen und Lehrern gelingt, so mit ihren Schülerinnen und Schülern umzugehen, dann geben sie Zeugnis. Wenn sich Menschen, die nicht getauft sind, entscheiden, bei uns an der Schule arbeiten zu wollen, dann wird vorher mit ihnen gesprochen und sie werden gefragt, was ihre Perspektive auf die Welt ist, ob sie die franziskanisch-salvatorianischen Grundüberzeugungen teilen und sie Schülerinnen und Schülern aus einer jesuanischen Haltung heraus begegnen wollen. Diese Fragen kann man diskutieren und das ist dann in einem guten Sinne katholisch, wenn man an die Erklärung "Nostra aetate" nach dem Zweiten Vatikanische Konzil erinnert: Strahlen der Wahrheit gibt es in verschiedenen Konfessionen, Religionen und auch bei den Atheisten. Auch da lese ich wieder eine Weitung für die deutsche Kirche.
Frage: Gerade im zweiten Teil des Dokumentes werden Kriterien genannt, die katholische Bildungseinrichtungen erfüllen sollen. Waren das neue Kriterien oder wird das in Deutschland schon längst erfüllt?
Stollhof: Wenn ich mir beispielsweise den Punkt mit dem gemeinsam auszufüllenden Erziehungsauftrag von Eltern und Schule anschaue, dann kann ich da einen Haken dranmachen. Das ist allerdings sicher ausbaufähig an allen Schulen. Wenn es um das integre Leben von Lehrkräften und Eltern geht, dann ist auch das ein bekanntes Kriterium. Wenn Sie als Pädagoge nicht authentisch sind, dann haben Sie verloren, das merken die Schülerinnen und Schüler sofort. Insgesamt haben mich die Punkte also nicht wirklich überrascht. Was mich überrascht hat, war der Teil über die pädagogischen Charismen der Kirche. Das ist ein sehr spannender Punkt: Welche Rolle hat Bildung eigentlich innerhalb der Kirche? Ich würde sagen: Da hat Kirche noch Hausaufgaben zu erledigen.
„Die Fokussierung auf die Eucharistiefeier im Corona-Lockdown war für mich als Lehrkraft, die jede Woche Religion unterrichtet, ein Schlag ins Gesicht.“
Frage: Sie sprechen die Hausaufgaben an, die das Schreiben aufgibt. Was muss sich in Hinblick auf katholische Bildungseinrichtungen grundsätzlich in Zukunft ändern?
Stollhof: Aus meiner Sicht sind das drei Dinge: Erstens muss die ganze Identität Eingang finden in den Unterricht. An unseren Schulen haben wir mit dem Dialogischen Lernen nach Urs Ruf und Peter Gallin einen Vorschlag, der mehr oder weniger stark genutzt wird. Die Hausaufgabe ist also, wieder mehr an die Unterrichtsentwicklung heranzugehen, denn der Hauptgrund, warum Eltern ihre Kinder auf eine katholische Schule schicken – und dafür unter Umständen sogar Geld bezahlen –, ist, dass der Unterricht dort gut ist. Und wenn dieses Reden von Werten und Überzeugungen ernstgemeint ist, dann muss es sich im Unterricht zeigen: Wie diskutieren wir miteinander, wie kommen wir in einen echten "Dialog", in dem Gedanken fließen, wie kommunizieren wir über Leistung, wie geben wir Feedback, wie reden wir in Notenkonferenzen über Schülerinnen und Schüler.
Die zweite Hausaufgabe: Aus meiner Sicht steht eine Besinnung des deutschen Katholizismus – der Bischöfe und der Laien – auf den Bildungsbereich an. Das ist ein Wirkungsfeld, in dem ganz viel pastorale Arbeit gemacht wird, die aber kaum wahrgenommen wird. Und ich würde mir sehr wünschen, dass man diesen Menschen wirklich ernsthaft zuhört. Die Fokussierung auf die Eucharistiefeier im Corona-Lockdown war für mich als Lehrkraft, die jede Woche Religion unterrichtet, ein Schlag ins Gesicht. Es ging nur noch um die Messe und nicht mehr darum, wo Kirche eigentlich passiert. Dabei kann ich mit meiner Reichweite als Religionslehrer mehr Menschen erreichen als so manche Sonntagspredigt. Die ganzen kirchenpolitischen Gefechte, die wir gerade führen, bringen uns nach Kenntnis meiner Schülerschaft kaum etwas. Die haben beschlossen: Wenn die Kirche sich nicht für mich als Frau oder als queere Person oder was auch immer interessiert, dann bin ich weg und komme auch nicht mehr wieder. Und gleichzeitig erlebe ich immer wieder, dass diese jungen Menschen spirituell auf der Suche sind. Sie suchen authentische Gesprächspartnerinnern und -partner, die ihre Welt aus einem spezifischen Sinnhorizont heraus deuten.
Frage: Und die dritte Hausaufgabe?
Stollhof: Das schließt ein wenig daran an: Was heißt denn katholisch überhaupt? Wie können wir katholische Schulen sein, wenn wir in diesen Institutionen Missbrauchsserien hatten? Was heißt katholisch in einer Kirche, in der es anscheinend nur noch um Macht und Machtmissbrauch geht? Da müssen wir ran! Ich bin sehr froh, bei ehemaligen Ordensschulen zu arbeiten. Orden wollten mit ihrer Gründung immer ein Korrektiv sein zu dem, was kirchlich gerade geschah. Ob die Ordensschulen dieses Korrektiv immer waren, kann man trefflich diskutieren, aber das war die Idee von Franziskus, als er seine Gemeinschaft gegründet hat: Er wollte eine andere Kirche. Aus dieser Tradition heraus, quer zu stehen zu dem, was gerade geschieht, und eine eigene Spiritualität mitzubringen, daraus Schule zu entwickeln, das hat Potenzial für unsere Gesellschaft.