Experten: Umgang mit Kyrill I. kann Vatikan Autorität kosten
Der Vatikan muss sich nach Ansicht von Wissenschaftlern klar gegen den Ukraine-Krieg und die Aussagen des Moskauer Patriarchen Kyrill I. positionieren. Bei seinen Bemühungen um die Ökumene, also die Einheit der christlichen Kirchen, fokussiere sich der Vatikan auf die Hierarchie und mache sich dadurch vom Moskauer Patriarchat abhängig, schreiben vier Experten in einem am Freitag auf dem österreichischen Portal feinschwarz.net veröffentlichten Beitrag. "So riskiert es der Heilige Stuhl, das ökumenische Projekt insgesamt zu beschädigen und setzt seine eigene diplomatische Tradition und Autorität aufs Spiel."
Die Sicht des Papstes auf den Krieg als geopolitischen Interessenkonflikt zwischen Russland und den Vereinigten Staaten habe "wichtige Defizite", kritisieren der Münsteraner Osteuropa-Experte Thomas Bremer, die Berliner Theologin Regina Elsner, der in den USA lehrende Theologe Massimo Faggioli und die Innsbrucker Soziologin Kristina Stoeckl: "Jenes Russland, welches behauptet, Sicherheitsgarantien gegen die Nato-Erweiterung zu benötigen, kann in Wirklichkeit seit zwei Jahrzehnten keine Sicherheit, persönliche Unversehrtheit, Würde und Frieden für seine eigene Bevölkerung und für die Nachbarländer garantieren." Auch die russisch-orthodoxe Kirche unterdrücke Proteste.
Im Interview des "Corriere della Sera" am Dienstag hatte Franziskus unter anderem deutliche Kritik an der Politik der Nato geübt. Hinter jedem Konflikt stünden "internationale Interessen". Vielleicht habe "das Bellen der Nato an Russlands Tür" Putin provoziert, gab der Papst zu bedenken. Der Konflikt in der Ukraine sei von außen entfacht worden.
Russisch-orthodoxe Kirche manipuliere Vatikan-Aussagen
Die russisch-orthodoxe Kirche manipuliere "bewusst und strategisch" die Stellungnahmen aus dem Vatikan, so die Experten. Eine deutlichere Verurteilung des Krieges sei nicht ausreichend. Der Vatikan dürfe "keine Handlungen und Aussagen" tätigen, "die der russischen Propaganda dienen können, sondern nur noch sehr klare und unmissverständliche Erklärungen" abgeben: "Papst Franziskus muss klarmachen, wo die katholische Kirche in Bezug auf die Ukraine steht."
Die Wissenschaftler fordern vom Vatikan zudem, den "Ernst der pastoralen Situation" in der Ukraine zu erkennen – "wo orthodoxe Gläubige von einer brutalen Militäraggression durch ein Land betroffen sind, dessen Kirchenoberhaupt behauptet, diese Gewalt sei Teil ihrer Erlösung". Der Heilige Stuhl müsse vor allem mit den orthodoxen Kirchen in der Ukraine zusammenarbeiten und sich für humanitäre Korridore einsetzen.
Unterdessen lehnte Ungarns Regierungschef Viktor Orban die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Sanktionen gegen Kyrill ab. "Wir werden die Aufnahme von Kirchenführern in die Sanktionsliste nicht unterstützen", weil dies der "heiligen" Religionsfreiheit widerspreche, sagte er am Freitag laut der ungarischen Nachrichtenagentur MTI in einem Radiointerview. Orban sprach sich ebenso kategorisch gegen ein Importverbot für russisches Erdöl aus.
Die EU-Kommission schlägt in ihrem sechsten Sanktionspaket wegen des russischen Angriffskriegs auch ein Einreiseverbot für Kyrill und das Einfrieren seines Vermögens vor. Die EU-Staaten prüfen derzeit das Paket. Alle Mitgliedsländer müssten zustimmen, damit es in Kraft tritt.
Litauische Regierung macht sich für Sanktionen stark
Die litauische Regierung hatte sich für Sanktionen gegen den russisch-orthodoxen Patriarchen stark gemacht, weil er den Krieg gegen die Ukraine unterstütze. Außenminister Gabrielius Landsbergis sagte Ende April, das Kirchenoberhaupt sei eher damit beschäftigt, "Seelen zu töten, als sie zu retten".
Kyrills Sprecher hatte darauf betont, der Patriarch bete für Frieden. Man müsse zudem der Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche "völlig unkundig" sein, wenn man Kyrill I. mit Sanktionen einschüchtern wolle. Das Kirchenoberhaupt stamme aus einer Familie, deren Mitglieder jahrzehntelang wegen ihres Glaubens und ihrer moralischen Haltung während "der militanten kommunistischen Gottlosigkeit" unterdrückt worden seien, aber "keiner von ihnen hatte Angst vor Gefängnis oder gar Racheakten".
Kyrills Äußerungen zu Russlands Angriffskrieg auf Linie des Kreml-Chefs Wladimir Putin sorgen besonders in der Ukraine seit Wochen für Entsetzen. Den Militäreinsatz rechtfertigte er als "metaphysischen Kampf" des Guten gegen das Böse aus dem Westen. Der Patriarch propagiert seit Jahren eine "russische Welt", zu der auch die Ukraine gehöre. (tmg/KNA)