Die österreichischen Wurzeln der Liturgiereform
Am 25. Mai 1922, dem Fest Christi Himmelfahrt, feierte der Augustiner-Chorherr Pius Parsch (1884–1954) in Klosterneuburg bei Wien die erste damals sogenannte "liturgische Messe", bei der die Gemeinde Messtexte in deutscher Übersetzung verwendete. Parschs Ziel war es, den Gläubigen die Liturgie zu erschließen und sie vor allem wieder aktiv daran teilnehmen zu lassen. Der Gedanke der tätigen Teilnahme des Volkes am kirchlichen Gottesdienst war 1903 von Papst Pius X. in seinem Motu proprio über die Erneuerung der Kirchenmusik "Tra le sollecitudini" formuliert worden; bald entwickelte er sich zum Programm der erwachenden Liturgischen Bewegung.
"Die Soldaten verstanden von der Messe nichts"
Parsch erhielt seine Anregungen jedoch vor allem aus der praktischen Seelsorgearbeit, wie er rückblickend in seinem Buch "Volksliturgie" (1940) schildert. Im Ersten Weltkrieg war er Feldseelsorger. Da empfand er es "als einen Mangel, daß die Soldaten von der Messe nichts verstanden". Die Messe wurde in lateinischer Sprache gehalten, noch dazu oft als sogenannte "stille Messe" (missa lecta), bei der der Priester die Messtexte nur leise sprach. Die Gemeinde kam dabei nicht vor. Ihren Part von dialogischen Akklamationen wie zum Beispiel "Dominus vobiscum" (Der Herr sei mit euch) – "Et cum spiritu tuo" (Und mit deinem Geiste) übernahm die Gemeinde nicht selbst, sondern stellvertretend ein Ministrant (im Hochamt: der Chor). Die anwesenden Gläubigen waren nicht an der Messfeier beteiligt, sondern saßen lediglich im selben Raum und gingen eigenen Beschäftigungen nach: in einem Volksmessbuch mitlesen, stilles Gebet, oder Lektüre einer Messandacht, die das Messgeschehen in Gebetsform kommentierte und meditierte. Oft fand während der stillen Messe des Priesters eine davon völlig losgelöste Volksandacht statt, meist Rosenkranzgebet oder eine Singmesse (bei der ein Lied ans andere gereiht und nur während des Hochgebets eine kurze Stille gehalten wurde). Es gab auch schon laut im Wechsel mit einem Vorbeter gesprochene Messandachten, die sogar an einigen Stellen Paraphrasen oder Übersetzungen der Messtexte brachten. Diese waren laut Parsch allerdings beim Volk nicht sehr beliebt. Zudem achtete man nicht auf zeitliche Synchronität; es konnte leicht passieren, dass die Gemeinde noch beim Gloria war, während der Priester bereits leise das Evangelium las.
Als Feldseelsorger war Parsch die meiste Zeit über an der Ostfront stationiert, und zwar in der heutigen Ukraine. Dort besuchte er auch Gottesdienste im ostkirchlichen Ritus. Daniel Seper, stellvertretender Leiter des Pius-Parsch-Instituts, fasst in seinem Aufsatz "Von Kiew nach Klosterneuburg" (2022) Parschs Eindrücke zusammen: "Parsch hatte beobachtet, wie das Volk gewisse Teile des eucharistischen Gottesdienstes wie beispielsweise das Credo oder das Vaterunser mitgebetet oder mitgesungen bzw. mit dem Priester gemeinsam gebetet und gesungen haben, so wie es der slawischen Tradition entspricht und vor allem in der heutigen Ukraine üblicher als anderswo war." – "Da", so Parsch rückblickend, "stieg ein neuer Gedanke in mir auf, der allerdings erst nach einigen Jahren zur Reife kam: Die aktive Teilnahme des Volkes." Schon bei Feldgottesdiensten unternahm er erste Umsetzungsversuche: "Ich ersuchte hie und da einen anderen Geistlichen, die Messe zu feiern; ich aber erklärte während der Feier den Soldaten in Gebetsform die Messe." Parsch improvisierte sozusagen Messandachten, die, zeitlich parallel, das Geschehen im Altarraum erschlossen. Die Soldaten blieben allerdings Zuhörer.
Prägende Begegnungen in der Ukraine
1940 erinnert sich Parsch: "Noch eine Episode hat auf mich einen nachhaltigen Einfluß geübt: Im letzten Halbjahr des Weltkrieges war unser Regiment in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, stationiert. Die vielen goldkuppeligen Kirchen dieses 'russischen Rom' machten auf mich großen Eindruck, das Mönchsleben, der feierliche Gottesdienst, z.B. in der Osternacht, zog mich mächtig an. Um diese Zeit kam der bekannte Ethnologe Dr. P. W[ilhelm] Schmidt von St. Gabriel [=Missionshaus in Mödling bei Wien], der ebenfalls Feldgeistlicher war, nach Kiew, um die Soldatenheime zu inspizieren. Ich führte ihn in der Stadt herum, zeigte ihm die Kirchen und Klöster. Da entwickelte er mir einen Plan, den er nach dem Kriege verwirklichen werde: Er wolle Hochamtshefte herausgeben, in denen von einem Sonn- oder Festtag der Wechsel- und der stehende Text gemeinsam enthalten sind. Er begründete diesen Plan damit, daß die Katholiken eben nicht wissen, was bei einem Hochamt vorgeht. Diese Unterredung war für meine weitere Entwicklung im höchsten Grade bedeutungsvoll."
Nach dem Ersten Weltkrieg unternahm man an verschiedenen Orten Versuche, die Kluft zwischen der lateinischen Liturgie des Priesters und der Gemeinde zu überbrücken und zum altkirchlichen Ideal, der gemeinsamen Feier von Priester und Volk, zurückzukehren. Einer war die sogenannte "Missa recitata", wie sie etwa in Maria Laach gefeiert und unter anderem auch von Wiener Jugendkreisen übernommen wurde. Bei dieser Form beteiligten sich die Gläubigen unmittelbar an der Messfeier des Priesters, indem sie die sonst vom Ministranten gesprochenen Teile sowie die Ordinariumsgesänge (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Die) gemeinsam rezitierten – und zwar auf Latein. Parsch hatte von dieser Form der Messfeier zwar gehört, wählte jedoch (wie er betont: unabhängig davon) einen anderen, volksnäheren Weg.
Der Priester mischt sich (noch) nicht ein
Zurück in Klosterneuburg, hielt Parsch wöchentliche Bibelstunden, zu denen sich jeweils etwa 100 Zuhörerende einfanden. Ein Jahr später kamen auch Liturgiestunden hinzu. Doch wollte er nicht bei der Erklärung der Messe stehen bleiben. Mit seiner durch die Vorträge gut vorbereiteten Gemeinde wagte er zu Christi Himmelfahrt 1922 den entscheidenden Schritt: In dem kleinen romanischen Kirchlein St. Gertrud zu Klosterneuburg feierte er eine volksliturgische Messe, auch "Chormesse" genannt, weil die Gemeinde dabei viele Teile gemeinsam im Chor sprach: Ein Vorbeter trug eine deutsche Übersetzung der Priestergebete und Lesung vor, die Gemeinde rezitierte gemeinsam auf Deutsch das Gloria, das Credo und die Propriumsgesänge (Introitus, Graduale, Alleluja, Offertorium und Communio). Für Kyrie, Sanctus und Agnus Dei hatte der in Klosterneuburg lebende und wirkende Kirchenmusik-Professor Vinzenz Goller "einfache choralmäßige Melodien" komponiert, die leicht auch von der Gemeinde gesungen werden konnten. Dass die Gemeinde nun sogar wörtliche Übersetzungen der Messgesänge sang – auf Melodien, die dem gregorianischen Choral nachempfunden, aber doch an die deutsche Sprache angepasst waren –, war ein absolutes Novum.
Formal handelte es sich bei der ersten "liturgischen Messe" um eine Messandacht, die die Gemeinde feierte, während der Priester eine stille Messe zelebrierte. Allerdings betete das Volk nun nicht mehr irgendwelche freieren Andachten, sondern die Messtexte selbst in deutscher Übersetzung – und dies zeitlich parallel zu den lateinischen Texten des Priesters. Der Zelebrant trug nur das Evangelium in der Volkssprache vor (nachdem er es zuerst leise auf Latein gelesen hatte!) und legte es anschließend in einer Homilie aus. Darüber hinaus, so der Klosterneuburger Chorherr und Pastoraltheologe Norbert Stenta 1926, "mischt er [=der Priester] sich im Vollzug seiner missa lecta in die deutsche Chormesse nicht ein".
Berührungspunkte zwischen Priester- und Volksgottesdienst
Dies ändert sich jedoch wenige Jahre später. In der undatierten 5. Auflage der "Klosterneuburger Chormesse" treten Priester und Gemeinde nun in direkten Dialog: Das Volk antwortet dem Priester an fünf Stellen auf "Dominus vobiscum" mit "et cum spiritu tuo". Damit schaltet sich der Priester in die deutsche Chormesse ein, bzw. die Gemeinde nimmt aktiv an der lateinischen Messe des Priesters teil. Die beiden bislang getrennt nebeneinander herlaufenden Feiern berühren sich an diesen Punkten und werden hier zu einer gemeinschaftlichen Feier von Priester und Volk.
In den folgenden Jahren entwickelte Parsch seine Chormesse weiter. Daneben schuf er für weniger geschulte Gemeinden eine einfachere Form: die Betsingmesse, bei der anstelle von Propriumsgesängen (mitunter auch Gloria und Sanctus) deutschsprachige Kirchenlieder erklangen. Allerdings bevorzugte Parsch Lieder, die den vorgesehenen liturgischen Texten möglichst nahekamen – und da es solche kaum gab, beauftragte er den St. Pöltner Theologieprofessor Karl B. Frank, Paraphrasen auf bekannte Kirchenlied-Melodien zu dichten. Gesammelt erschienen sie 1937 im "Meßsingbuch".
Vom Katholikentag zum Konzil
Die Betsingmesse empfing ihre "Feuertaufe" (Parsch) als Hauptgottesdienst des Wiener Katholikentags 1933 vor Schloss Schönbrunn mit über 200.000 Teilnehmenden. Dieser Gottesdienst wurde – ein Novum! – sogar im Rundfunk übertragen und dadurch weit über Wien hinaus bekannt. "Von allen Pionieren der Liturgischen Bewegung", so der Salzburger Liturgiewissenschaftler Rudolf Pacik in seinem Aufsatz über "Pius Parschs Modelle für die tätige Teilnahme des Volkes an der Messe" (2014), habe Parsch "am stärksten in die Breite und in das ganze deutsche Sprachgebiet hinein gewirkt" und der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils den Weg bereitet. Für viele Gemeinden, die an Parschs Gottesdienstmodelle gewöhnt waren, war die Umstellung gar nicht so groß, denn hier betete und sang das Volk die ihm zukommenden Teile der Messe schon längst auf Deutsch – nur eben im Wechsel mit einem Vorbeter und parallel zur lateinischen stillen Messe des Priesters. Mit dem Konzil wurden zwar die Klosterneuburger Messformen obsolet, denn nun konnte die ganze Gemeinde (einschl. Zelebrant) die Messe in deutscher Sprache feiern. Bis heute überlebt haben aber Gollers Gesänge, die er für die erste volksliturgische Messe in Klosterneuburg komponierte: Unter dem Titel "Leopold-Messe" stehen sie auch im neuen "Gotteslob" (Nr. 137–139).